Indische Geschichte

Indische Geschichte - Kultur- Invasionen- Religionen - Indien,s Unabhängigkeit - Zivilisation

Die bedeutendsten und der Welt “größten” Zivilisationen stammen aus Indien. Selbst die heutigen Sozialstrukturen können über Tausende von Jahren zurückverfolgt werden. In Indien bestanden bereits mächtige Königreiche, als in Europa Vergleichbares noch gar nicht bekannt war. Indien als National ist jedoch eine verhältnismäßig junge Schöpfung, zusammengefügt durch die Briten. Und so wie auch das mächtigste der alten indischen Reiche nicht in der Lage war, ganz Indien in sich aufzunehmen, so ist dieser Subkontinent Indien auch heute eher ein Land der Unterschiedlichkeit als der Gemeinsamkeiten. Deutlich wird dies zum Beispiel daran, dass nur wenige der Tamilen im Süden Hindi sprechen, obwohl dies die Landessprache ist. Abgesehen davon, dass Indien bereits eine gewaltige Geschichte und Entwicklung hinter sich hat, wird es auch deshalb seinen Platz in den Geschichtsbüchern behalten, weil es Geburtsstädte zweier großer Weltreligionen war.

Die Kultur des Indus-Tales: Indiens erste große Kultur erblühte ungefähr 1000 Jahre lang, angefangen 2500 v. Chr. entlang des Indus, dessen Tal zum heutigen Pakistan gehört. Aus zwei Städten entwickelte sich eine erstaunliche Gesellschaft. Die damaligen Hauptstädte wurden erst in unserem Jahrhundert entdeckt. Nach und nach legte man auch weitere kleinere Städte wie Lothal (bei Ahmedabad) frei. Beherrscht wurden diese Städte im Indus-Tal meistens durch religiöse Gruppen, nicht aber durch weltliche Herrscher. Am interessantesten aber ist die Tatsache, dass diese Städte bereits eine hohe Entwicklungsstufe besaßen, insbesondere in der Technik. Immerhin verfügten die Städte schon über ein ausgetüfteltes Bewässerungssystem und eine organisierte Müllabfuhr. Sieht man einmal von den umfangreichen Ausgrabungen in den Städten ab, so ist leider nur recht wenig über die Entwicklung der Kultur und über ihren Verfall erforscht. Ihre Schriften sind noch immer nicht entziffert worden, sodass bis heute ungeklärt ist, wie eine so fortschrittliche Kultur in so kurzer Zeit zusammenbrach, als die Arier einfielen.

Frühe Invasionen: Die ersten Arier kamen ohne strategische Überlegungen nach Nordindien. Sie fielen auch nicht in einer Invasion in das Land ein. Sehr klar lässt sich aber auch noch heute erkennen, dass die Bewohner Nordindiens Nachfahren der Arier sind. Demgegenüber sind die Menschen im südindischen Raum Drawiden. Die Arier kamen von Norden her ungefähr 1500 v. Chr. in dieses Gebiet. Nach und nach drangen sie aus dem damaligen Punjab (heute Pakistan) und drangen tiefer nach Indien ein und folgten dem Lauf des Ganges bis in die Mitte des Landes und folgten dem Lauf des Ganges dann bis nach Bengalen. Unter der Herrschaft von Darius (521-486 v. Chr.) gehörte der Punjab zum persischen Reich. Indien hat sich über diesen Verlust keine großen Sorgen gemacht. Auf seinem Marsch von Griechenland erreichte auch Alexander der Große im Jahre 326 v. Chr. Indien. Da seine Truppen sich weigerten, weiter vorzudringen als bis an die Gestade des Beas, war er gezwungen umzukehren, ohne Indien oder zumindest Teile davon besiegt zu haben. So blieb es dabei, dass er lediglich bis zum östlichsten Teil des Perserriches gelangte. Dennoch hinterließ er Spuren in Form der Gandhara-Kunst, einer etwas seltsam anmutenden Mischung griechischer Kunstideale mit Symbolen der neuen Glaubensrichtung des Buddhismus.

Die Entstehung der Religionen: Zwei große Weltreligionen haben den Subkontinent Indien als Geburtsstätte: der Buddhismus und der Hinduismus. Die Hindu-Religion ist eine der ältesten Religionen der Welt. Erste Zeichen des Hinduismus lässt bereits die von Priestern beherrschte Indus-Kultur erkennen. Man nimmt heute an, dass all die Erzählungen in den alten Hindu-Schriften auf geschichtliche Ereignisse zurückzuführen sind. So finden sich zum Beispiel in den Veden, die vermutlich zwischen 1500 und 1200 v. Chr. entstanden, Berichte vom Sieg Brahmas über Indra, den Gott des Donners und des Krieges. Dies könnte auf die Wiederbelebung des Brahmanenglaubens hinweisen, aus dem der Hinduismus hervorging und der nach der Eroberung durch die Arier Fuß fasste. Der Hinduismus erlebte im Laufe der Jahrhunderte ein ständiges Auf und Ab, sogar noch im vergangenen Jahrhundert. Sein größter Herausforderer war allerdings die zweite groß Religion Indiens: der Buddhismus. Seine Anfänge gehen zurück auf die Zeit um 500 v. Chr. Bedeutend wurde diese neue Religion aber erst, als der Herrscher Ashoka ein begeisterter Anhänger wurde. Als aber der Hinduismus zwischen 200 und 800 n. Chr. an Bedeutung zunahm, verlor der Buddhismus an Boden. In Indien entwickelte sich aber noch eine weitere recht bedeutende Religion: der Jainismus. Diese Religion weist einige Gemeinsamkeiten mit dem Buddhismus auf, fand aber über Indiens Grenzen hinweg nie eine größere Anhängerschar. Die Sikhs können nicht auf eine so alte Vergangenheit zurückblicken. Ihre Religion wurde erst im 16. Jahrhundert als synkretistische Reformsekte gegründet. Ihr Ziel war es, den Hinduismus und den Islam zu verschmelzen.

Die Mauryas und Ashoka: Zwei Jahrhunderte, bevor Alexander der Große seinen langen Marsch gen Osten antrat, hatte sich im Norden Indiens ein Königreich zu entwickeln begonnen. Die Bewohner dieses Königreiches waren es, die das Vakuum, das Alexander bei seinem Rückzug hinterließ, ausfüllten. Das war im Jahr 321 v. Chr., als das Reich des Chandragupta Maurya an Macht gewann. Die damalige Hauptstadt war dort, wo heute Patna liegt. Von dort aus weitete sich das Reich der Mauryas über ganz Nordindien aus. Seine Blütezeit erlebte dieses Königreich unter dem Herrscher Ashoka; er ist heute eine der klassischen Geschichtsfiguren Indiens. Im Jahr 262 v. Chr. trat Ashoka dann aber zum Buddhismus über. Wie groß sein Reich war, ist bis zum heutigen Tage an den vielen Säulen und in Fels gehauenen Edikten zu erkennen, die sich in weiten Teilen Nordindiens finden. Diese unter Ashoka erlassenen Edikte sowie die unter seiner Herrschaft errichteten Säulen findet der Interessierte in Delhi, in Gujarat, in Orissa, in Sarnath (Bihar) sowie in Sanchi (Madhya Pradesh). Ashoka gab sich aber nicht mit der Herrschaft über den Subkontinent zufrieden. Er streckte seine Fühler auch bis zum heutigen Sri Lanka aus. Hier wird er noch immer verehrt, weil er seinen Bruder und viele Missionare aussandte, um den Buddhismus auch auf dieser Insel zu verbreiten. Unter Ashoka erlebte die Kunst, insbesondere die Bildhauerei, eine große Förderung. Sein Emblem, das früher viele Kapitale von Säulen schmückte, ist heute das Siegel des modernen Staates Indien. Während Ashoka Regentschaft wurden vermutlich mehr Provinzen Indiens durch die Mauryas kontrolliert, als dies jemals vor der britischen Herrschaft der Fall war. Mit Ashokas Tod im Jahr 232 v. Chr. Zerfiel das Reich schrittweise, bis es 184 v. Chr. völlig zusammenbrach.

Die Zeit bis zu den Guptas: In der Folgezeit entstanden neue Reiche, die aber ebenso schnell wieder von der Bildfläche verschwanden. Die Nachfolger der Königreiche Alexanders des Großen im Nordosten weiteten ihre Macht bis in den Punjab aus, der sich später zum Königreich Gandharan entwickelte. Im Südosten und Osten breiteten sich die Andhras oder Telugus weiter landeinwärts aus, während das ehemalige Reich der Mauryas von den Sungas besetzt wurde. Die Sungas regierten etwa in der Zeit 184 bis 70 v. Chr. Sie führten das Werk Ashokas fort, vollendeten viele buddhistische Bauten und schufen die vielen Höhlentempel in Mittelindien. Einem Wandel unterlag aber auch die Lehre des Buddhismus. Man ging vom reinen, philosophischen Buddhismus (Hinayana), in dem Buddha selbst nie sichtbar wurde, über zu einem Buddhismus, in dem man die Lehre auch durch Gegenständliches wie Stupas, Fußabdrücke, Bäume oder Elefanten untermauerte. Bis 400 n. Chr. behielt man diese Form der Lehre bei. Neben ihr entwickelte sich aber bereits seit 100 n. Chr. die Lehre des “großen Fahrzeugs” oder der “Mahayana-Buddhismus”. Der wesentlichste Unterschied zwischen diesen beiden Lehren ist, dass beim Hinayana nur einige wenige Auserwählte in die Welt des Nirwana eingehen durften, während beim Mahayana alle Anhänger des Buddhismus diese Chance haben sollten.

Im Jahr 319 n. Chr. Gründete Chandragupta II. das Reich Gupta; das war der erste Schritt zum Kaiserreich der Guptas. Seine Nachfolger drangen vom Patna aus, dann auch von anderen Hauptstädten im Norden, wie zum Beispiel Ayodhya. Das Kaiserreich der Guptas legte den Grundstein für die Guptas vom Jahr 455 n. Chr., deren Existenz noch bis 606 n. Chr. zu verfolgen ist. Auch während der Regentschaft der Guptas wurden die schönen Künste gepflegt, deren Kostbarkeiten heute noch in Ajanta, Ellora, Sanchi und Sarnath zu bewundern sind. Ein goldenes Zeitalter erlebten unter den Guptas auch die Dichtung und die Poesie. Als sich die Ära der Guptas dem Ende zuneigte, schwand auch der Einfluss des Buddhismus und Jainismus. Wieder einmal fand der Hinduismus mehr Anhänger. Jäh änderte sich das Blatt der Geschichte aber wieder, als die “weißen Hunnen” einfielen, die zwar zunächst noch von den Guptas zurückgeschlagen wurden, später aber doch erfolgreich waren. Zuvor hatten sie schon die Gandharas aus der nordöstlichen Region, nahe Peshawar, nach Kaschmir vertrieben. Indiens Norden wurde auch nicht wieder vereinigt. Dies gelang erst, als die Moslems eindrangen.

Die Vorgänge im Süden: Im Verlauf der indischen Geschichte hat sich gezeigt, dass Ereignisse in einem Teil des Landes häufig die anderen Provinzen überhaupt nicht berührten. Das Entstehen und der Zerfall der vielen Königreiche im Norden wirkte sich auf Südindien überhaupt nicht aus. Während der Buddhismus, und zu einem geringeren Teil auch der Jainismus, den Hinduismus in Nord- und Mittelindien verdrängte, blieb er im Süden die bedeutendste Religion. Die gesunde und gut funktionierende Wirtschaft im Süden die bedeutendste Religion. Die gesunde und gut funktionierende Wirtschaft im Süden basierte auf den außerordentlich guten Handelsbeziehungen mit anderen Ländern. So pflegten die Ägypter und später auch die Römer einen lebhaften Handel mit Südindien. Später wurde der Handel sogar noch ausgebaut, und zwar mit dem südostasiatischen Raum. Über einen längeren Zeitraum hatte der Buddhismus und später auch der Hinduismus auf den indonesischen Inseln einen guten Nährboden, und die Bevölkerung dieses Gebietes schaute voller Respekt und Ergebenheit auf den Subkontinent als den kulturellen Mentor. Daher wird das Ramayana, das wohl bekannteste Hindu-Epos, immer noch auch in südostasiatischen Ländern erzählt. Fremde Einflüsse wirkten sich aber auch auf Südindien aus und hinterließen dort Spuren. Im Jahr 52 n. Chr. Soll der Apostel St. Thomas in Kerala angekommen sein, wo bis heute ein starker christlicher Einschlag zu spüren ist.

Zu den größten Reichen, die sich im Süden bildeten, sind die der Cholas, der Pandyas, der Cheras, der Chalukyas und der Pallavas zu zählen. Von ihnen waren die Chalukyas auf die Region Dekkan fixiert und dehnten sich im Laufe ihrer Herrschaft sogar noch weiter nach Norden aus. Von ihrer Hauptstadt Badami in Karnataka aus regierten sie von 550 – 753 n. Chr und unterlagen dann den Rashtrakutas, erhoben sich aber im Jahr 972 noch einmal, um dann bis 1190 an der Macht zu bleiben. Weiter südlich waren die Pallavas, Vorreiter der drawidischen Architektur, eines äußerst überschwenglichen, fast barocken Stils. Sie brachten diesen Stil auch nach Java in Indonesien, nach Thailand und nach Kampuchea. Nachfolger der Pallavas wurden 850 n. Chr. die Cholas. Ihre architektonischen Fähigkeiten standen denen der Pallavas in nichts nach, wie an dem Tempel im Tanjore zu bewundern ist. Auch sie streckten ihre Fühler nach Übersee aus, unter anderem nach Ceylon. Ein langjähriger Krieg wurde sogar mit dem in Sumatra beheimateten Kaiserreich der Srivijaya geführt. Über bestimmte Zeiträume hinweg beherrschten sie sogar Teile von Sumatra und der malayischen Halbinsel.

Die frühen moslemischen Invasionen:  Während im Süden die Hindu-Königreiche die Macht besaßen und im Norden der Buddhismus einem ständigen Auf und Ab unterworfen war, begann sich bereits die moslemische Welle in Richtung Indien zu bewegen. Diese neue Gefahr ging vom Nahen Osten aus. Mohammed floh im Jahr 622 n. Chr. aus Mekka, kehrte aber schon 8 Jahre später zurück. Dies war auch der Zeitpunkt, in dem die gewaltige Maschinerie des Islam auf Ausweitung drängte. Nur weniger als ein Jahrhundert später gab es Angriffe der Araber auf Sind und sogar Gujarat, denn Mohammed als großer Prediger hatte das Kreuz und das Schwert als Mittel zur Verbreitung seiner Religion auserkoren. Offensichtlich wurde diese Absicht auf dem Subkontinent Indien erstmals durch den Angriff von Mahmud von Ghazni. Diese historische Stadt Ghazni ist heute eine schmuddelige kleine Ortschaft zwischen Kabul und Kandahar in Afghanistan. Mahmud überfiel sie seit dem Jahr 1001 n. Chr. mit Regelmäßigkeit einmal im Jahr. Seine Soldaten fielen dann auch in Indien ein, zerstörten die Tempel der Ungläubigen und nahmen alles mit, was beweglich und wertvoll war. Einer seiner Nachfolger nahm 1033 n. Chr. Varanasi ein, aber nur für kurze Zeit, denn bereits 1038 n. Chr. erschienen die Türken auf der Bildfläche, eifrig darauf erpicht, ihr Reich weiter nach Osten auszudehnen. Sie eroberten Ghazni. Damit waren auch die Überfälle auf Indien beendet.

Diese frühen Angriffe waren eher Raubzüge als das Bemühen, in Indien Fuß zu fassen. Erst 1192 waren die Moslems in der Lage, Siedlungen in Indien zu gründen. In diesem Jahr fiel nämlich Mohammed von Ghori aus in Indien ein und bekam Ajmer in die Hände, nachdem er vorher schon seine Macht über den Punjab ausgedehnt hatte. Nur ein Jahre später wurde diese erfolgreiche Eroberungsserie durch den General Qutb-ud-Din fortgesetzt, der zunächst Varanasi und Delhi bezwang. Er wurde sogar, nachdem Mohammed von Ghori im Jahre 1206 ermordet worden war, der erste Sultan von Delhi. Innerhalb von 20 Jahren brachten seine Truppen schließlich das ganze Ganges-Becken unter ihre Kontrolle. Sehr beständig waren die Sultane von Delhi leider nicht, denn wann immer ein neuer Sultan an die Macht kam, wuchs oder zerfiel das neu erkämpfte Terrain, je nachdem wie stark oder schwach die Persönlichkeit des jeweiligen Sultans war.

Mutiger wurde erst Ala-ud-Din, denn er durchbrach 1297 die Grenzen im Süden und drang bis Gujarat vor, seine Truppen sogar noch weiter. Feste Siedlungen errichteten sie allerdings nicht. Mohammed Tughlaq hatte 1338 die Idee, seine Hauptstadt von Delhi nach Daulatabad weiter im Süden zu verlegen, und zwar in die Nähe von Aurangabad in Maharashtra. Die Umsiedlung war nicht von langer Dauer, denn man zog bald wieder zurück in den Norden. Kurze Zeit später, als sich hier das Bahmani-Königreich entwickelt und sich das Sultanat von Delhi noch weiter in den Norden begeben hatte und an Macht verlor, fiel Timur in einem verheerenden Angriff von Samarkand her in dieses Gebiet ein (1398). Von diesem Zeitpunkt an gehörte den Moslems die Region, bis sie durch ein anderes moslemisches Königreich ersetzt wurde, nämlich durch das der mächtigen Moguln.

Die weitere Entwicklung im Süden: Auch während des langsamen Vordringens der Moslems im Norden ging der Süden seine eigenen Wege. Ebenso, wie die Arier bei ihren Invasionen nie bis in den Süden zogen, waren auch die Moslems bei dem Versuch, Südindien zu kontrollieren, wenig erfolgreich. Zwischen 1000 und 1300 n. Chr. blühte die Hoysala-Dynastie mit ihren Zentren in Belur, Halebid und Somnathpur, war aber nach einem räuberischen Einfall von Mohammed Tughlaq im Jahre 1328 und den folgenden Angriffen der vereinigten Hindu-Königreiche dem Untergang geweiht. Zwei andere große Königreiche entstanden nördlich des heutigen Karnataka, und zwar ein Moslemreich und ein Hindureich. Mit seiner prächtigen Hauptstadt Hampi war das Hindu-Königreich von Vijayanagar, das 1336  gegründet wurde, vielleicht eines der stärksten und mächtigsten Hindu-Königreiche in ganz Indien. Zur gleichen Zeit hatten die Sultane von Delhi den Norden Indiens in der Hand, der somit moslemisch war. Inzwischen hatte sich aber auch das Königreich der Bahmani stabilisiert. Leider verlor es durch eine Aufsplitterung in fünf kleinere Reiche, nämlich Berar, Ahmednagar, Bijapur, Golconda und Ahmedabad, im Jahr 1489 an Bedeutung. Im Jahr 1520 fiel Jaipur, weil es von den Herrschern von Vijayanagar vereinnahmt wurde. Viel Freude hatten sie aber daran nicht, denn bereits 1565 schlossen sich die moslemischen Königreiche zusammen und zerstörten Vijayanagar in der Schlacht von Talikota. Später fiel auch das Bahmani-Königreich dem Machthunger der Moguln zum Opfer.

Die Moguln: Nimmt man die Moguln mit all ihrer Pracht, Macht und Herrlichkeit zum Maßstab, dann ragt unter den Persönlichkeiten der indischen Geschichte lediglich noch Ashoka hervor. Die Moguln strahlten mit ihrer Persönlichkeit häufig noch über den Tod hinaus prägend auf das Land und gewannen nach und nach die Macht über ganz Indien. Dies geschah in einem Ausmaß, wie es nur noch unter Ashoka und den Briten der Fall war. Der Aufstieg der Moguln war kometenhaft. Ebenso zügig verblasste ihr Stern aber auch. Aus der Vielzahl der Moguln ragen nur sechs hervor, die sich profilierten. Nach Aurangzeb sind sie nur noch als Titelträger zu bezeichnen. Im allgemeinen beschränkten sich die Moguln aber nicht nur auf das Regieren, sondern sie besaßen auch eine Leidenschaft für das Bauen. Als berühmtestes Bauwerk, vielleicht sogar als eines der berühmtestes Bauwerk ist das unter Shah Jahan errichtete Taj Mahal bekannt. Auch Dichtung und Kunst wurden von den Moguln gefördert, sodass die Pracht und Erhabenheit ihrer Paläste frühe europäische Besucher verblüffte.

Die sechs mächtigsten und bedeutendsten Moguln waren :

            Babur                 1527 – 1530

            Humayun           1530 – 1556

            Akbar                 1556 – 1605

            Jehangir             1605 – 1627

            Shah Jahan       1627 – 1658

            Aurangzeb         1658 – 1707

Babur, der ein Nachfahren sowohl von Timur als auch von Genghis Khan war, marschierte von seiner Hauptstadt Kabul in Afghanistan aus in den Punjab ein und schlug den Sultan von Delhi bei Panipat. Dieser erste Erfolg war aber noch keine Initialzündung für die völlige Zerstörung der Gegner der Moguln, denn im Jahre 1540 war der Herrschaft der Mogul ein abruptes Ende beschieden, als Sehr Shah den Mogul Humayun, den zweitgrößten aller Moguln, besiegte. 15 Jahre musste er ins Exil, bis er schließlich auf seinen Thron zurückkehrte. Um 1560 herum gelang es dann seinem Sohn und Nachfolger Akbar, sein Reich endgültig und vollständig unter Kontrolle zu bekommen. Er war bereits mit 14 Jahren inthronisiert worden.

Möglicherweise war Akbar der größte aller Moguln. Er besaß nicht nur die Fähigkeit, alles Militärische, was damals für ein Reich von größter Wichtigkeit war, genau zu planen und zuzubauen, sondern er war auch ein äußerst gebildeter Mann, der sich durch Weisheit und Fairness auszeichnete. Er erkannte, was seine Vorgänger nicht begriffen hatten, dass nämlich die Zahl der Hindus in Indien viel zu groß war, um sie einfach unterjochen zu können. Klug ging er so vor, dass er die Hindus in sein Reich integrierte und sich sogar ihr Wissen zunutze machte, indem er sie als Berater, Generäle und Verwalter einsetzte. Akbars besonderes Interesse galt den Religionen. Viele Stunden lang diskutierte er mit Experten, nicht nur seiner eigenen Glaubensrichtung, sondern auch mit Fachleuten anderer Religionen, zum Beispiel mit Christen. Schließlich ersann er sogar eine eigene Religion, die ein Konglomerat aller Religionen war, gemischt nach dem Gesichtspunkt, was wohl das Beste in jeder Glaubensrichtung sei.

Jehangir war Akbars Nachfolger, aber längst nicht so profiliert. Den größten Teil seiner Herrschaft er damit, seine Liebe zu Kaschmir zu äußern. Dort starb er auch während eine Reise. Sein Grab befindet sich in Lahore im heutigen Pakistan. Shah Jahan, der nächste Mogul, war eher auf Agra und Delhi fixiert. Während seiner Regentschaft entstanden einige der lebendigsten und dauerhaftesten Baudenkmäler aus der Zeit der Moguln. Am bekanntesten ist das Taj Mahal von Shah Jahan, aber es ist lediglich ein Denkmal von vielen. So wird denn auch von einigen Forschern behauptet, dass gerade dieser Hang zum überschwenglichen Bauen der Grund dafür war, dass sein Sohn Aurangzeb vorzeitig den Thron bestieg, um seinen architektonischen Extravaganzen Einhalt zu gebieten.

Aurangzeb war der letzte in der Reihe der bedeutenden Moguln. Unter ihm erreichte das Land die größten Ausmaße. Er leitete aber auch den Untergang ein. Die Ursache dafür war die Tatsache, dass er eine Grundregel, die Akbar so umsichtig geschaffen und verfolgt hatte, außer Acht ließ. In Akbar waren der Hang zur Pracht und Großzügigkeit mit einem Sinn für Gerechtigkeit vereinigt. Er hatte das Problem mit den Hindus beiseite geschafft, indem er sie in sein Regierungskonzept mit einbaute und ihren Glauben respektierte. Im Gegensatz dazu war Aurangzeb ein Pfennigfuchser und religiöser Fanatiker. Er war tief mit dem Islam verwurzelt und lebte so enthaltsam und puritanisch, wie er es auch von seinen Untergebenen erwartete. Aber er verlor dadurch schnell das Vertrauen sowie den Respekt der Menge und musste sich dauernd gegen Revolten von allen Seiten wehren. In vielen Teilen Indiens findet man Moscheen, die Aurangzeb, der Fanatiker, auf den Grundmauern früherer Tempel errichten ließ. Nach seinem Tode im Jahr 1707 fiel das Reich der Moguln in sich zusammen, auch wenn in der folgenden Zeit immer noch Herrscher, die sich Moguln nannten, kleine Reiche in Indien beherrschten, und dies sogar bis zur Zeit des großen Aufstandes. Erst die Briten schickten den letzten Mogul ins Exil und richteten seine Söhne hin. Bedeutend waren diese Herrscher aber alle nicht mehr. In krassem Gegensatz zu seinen Vorgängern, die in prächtigen Grabmälern ruhen, wurde Aurangzeb in einem einfachen Grab bei Rauza, nahe Aurangabad, beigesetzt.

Nach der Abschaffung der Mogulherrschaft bestanden dennoch einige kleinere Reiche über einen längeren Zeitraum weiter. So tolerierten die Briten das Reich des Vizekönigs von Hyderabad das bis zur Unabhängigkeit Indiens bestand. Dagegen regierten die Novobs von Oudh im Norden recht exzentrisch, pompös und zudem schlecht, bis die Briten 1854 diesem Treiben ein Ende setzten und den letzten Nabob in den Ruhestand versetzten. In Bengalen kollidierte auf recht unkluge Weise der Mogul bereits früher mit den Briten, sodass er 1757 in dem berühmten Kampf von Plassey unterlag.

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Die Marathen: so ganz nahtlos ging aber die Macht der einflußreichen Moguln doch nicht auf andere Potentaten über. Schwierigkeiten bereiteten die in diesen Zeitraum fallenden Ereignisse und der Unmut vieler kleinerer Machthaber. Zu ihnen gehörten nicht zuletzt die Marathen. Während der gesamten Herrschaft der Moguln hielten sich starke hinduistische Kräfte im Norden Indiens, vor allem die Rajputen. Beheimatet waren die Rajputen vornehmlich in Rajasthan. Als Angehörige einer Kriegerkaste fanden sie als tapfere Prinzen und Fürstensöhne in der indischen Geschichte einen ähnlichen Platz wie die galanten Ritter in England. Sie widersetzten sich jedem, der es wagte, seinen Fuß auf indischen Boden zu setzen. Niemals waren sie in irgendeiner Weise vereint oder organisiert, und wenn die Rajputen nicht gerade mit kriegerischen Auseinandersetzungen mit Fremden beschäftigt waren, dann kämpften sie gegeneinander. Unter den Moguln gehörten sie der Armee des jeweiligen Herrschers an, deren fähigste Generäle Rajputen waren.

Die Marathen gewannen erst unter Shivaji an Bedeutung. Er übernahm die Macht aus den Händen seines Vaters, und unter seiner Herrschaft (1646 - 1680) vollbrachten die Marathen in Kriegen Bravourstücke und andere Heldentaten. Sein Ruhm ist nie verblast, denn noch heute berichten wandernde Erzähler, die in Indien von Dorf zu Dorf ziehen, von seinen Erfolgen. Einen besonderen Bekanntheitsgrad besitzt er immer noch in Maharashtra, wo die wildesten und seiner mutigen Konfrontationen mit den Moguln, sondern auch deshalb, weil er der niedrigen Shudra-Kaste angehörte und durch seinen Mut bewies, dass man in Indien nicht unbedingt ein Brahmane sein muss, um ein bedeutender Führer zu werden. Shivaji wurde sogar einmal gefangen genommen und nach Agra zurückgebracht, aber seine Tollkühnheit hielt ihn nicht lange in den Händen der Moguln. Er konnte entkommen und bestand weitere Abenteuer.

Weniger erfolgreich war dagegen sein Sohn. Er wurde unter Aurangzeb gefangen genommen, geblendet und schließlich hingerichtet. Aus nicht schlechterem Holz war sein Enkel geschnitzt. Aber der war für die Marathen keine Führerperson. Dennoch behauptete sich der Stamm der Marathen auch noch unter den Peshwas, die als Staatsminister durch Erbfolge die wirklich Mächtigen im damaligen Indien waren. Schritt für Schritt stießen sie in immer mehr Verwaltungsgremien vor, denn die Herrschaft der Moguln geriet mehr und mehr ins Wanken. Zunächst infiltrierten sie das Heer mit ihren Leuten und drangen dann auch in die Verwaltung der Landgebiete vor, die sie schließlich regelrecht kontrollierten. Als gar noch Nadir, der Schah von Persien, im Jahr 1739 Delhi plünderte, erhielten die Moguln den letzten tödlichen Stoß. Aber 1761 traf es dann auch die Marathen bei Panipat. Dort wo 200 Jahre vorher der siegreiche Babur nach seiner erfolgreichen Schlacht den Grundstein für die Herrschaft der Moguln gelegt hatte, wurden nun die Marathen von Ahmad Shah Durani geschlagen. Ihrer Expansion in Richtung Westen wurde so ein Riegel vorgeschoben. Aber trotzdem behielten sie die Kontrolle über Mittelindien und ihre Region, die unter der Bezeichnung Malwa bekannt ist. Dem Untergang war dieses Reich dennoch geweiht, denn den Briten, einer der letzten imperialistischen Mächte, hatten sie nichts entgegenzusetzen.

Die Ausweitung der britischen Macht: Die Briten waren weder die ersten Europäer in Indien, noch verließen sie als letzte das Land. Dies blieb den Portugiesen vorbehalten. 1498 erreichte nämlich Vasco da Gama die indische Küste dort, wo das heutige Kerala liegt, nachdem er das afrikanische Kap der guten Hoffnung umsegelt hatte. Da die Portugiesen auf dieser Route allein waren, blieben sie stolz und ungestört ein Jahrhundert lang die alleinigen Kontrolleure des gesamten Handels zwischen Europa und Indien. Im Jahre 1510 kaperten sie dann Goa, eine Enklave in Indien, die sie ununterbrochen bis 1961 hielten, 14 Jahre nach dem Zeitpunkt, als die Engländer ihre Zelte in Indien abbrachen.

Die Briten errichteten ihren ersten Handelsposten 1612 in Surat (Gujarat). Königin Elizabeth I. hatte nämlich bereits 1600 einer Londoner Handelsgesellschaft per Vertrag das Monopol für den Handel zwischen Indien und England eingeräumt. 250 Jahre lang hatte dann nicht die britische Regierung in Indien das Sagen, sondern die East India Company, die sich aufgrund dieses Vertrages ausweitete. Weitere Handelsposten wurden 1640 in Madras eröffnet, 1648 in Bombay und 1690 in Kalkutta. Aber die Briten und Portugiesen waren nicht die einzigen Europäer, die sich in Indien breitmachten. Auch die Holländer hatten Handelsvertretungen dort, und 1672 ließen sich die Franzosen in Pondicherry nieder. Dies war ebenfalls eine Enklave, die sie nach Portugiesischem Muster auch länger hielten als die Briten.

Leider hatte auch Indien unter der anglo-französischen Feindschaft zu leiden; so eroberten die Franzosen 1746 Madras, gaben es aber 1749 wieder zurück. In der Folgezeit bestimmten Intrigen das Verhältnis zwischen den Imperialmächten. Wann immer die Briten Streit mit einem einheimischen Regenten hatten, konnten sie sicher sein, dass die Franzosen diesen mit Waffen, Soldaten oder auch nur mit ihrer reichhaltigen Erfahrung unterstützten. Im Jahr 1756 griff Suraj-ud-Daula, der Nabob von Bengalen, Kalkutta an und schockierte die stolzen Briten durch dieses Ereignis außerordentlich. Ein Jahr danach eroberte Robert Clive Kalkutta für England zurück und besiegte Suraj-ud-Daula mitsamt seinen französischen Mitstreitern in der Schlacht von Plassey. Dies war nicht nur eine Ausweitung britischer Macht, sondern stutzte auch dem französischen Einfluss in Indien die Flügel.

Indien selbst befand sich zu diesem Zeitpunkt im Umbruch. Rund dafür war das Vakuum, das durch den Zerfall des Mongul-Reiches entstand. Einzig und allein die Marathen waren in der Lage, diese Lücke zu füllen. Sie stellten aber eher die Herrscher einer Gruppe kleinerer Königreiche dar, die manchmal einen gemeinsamen Nenner fanden, häufig aber auch nicht. Im Süden, wo der Einfluss der Moguln nie so groß gewesen war, bestimmten Rivalitäten zwischen den Briten und Franzosen das Geschehen. Dort wurde jeweils ein Herrscher gegen den anderen ausgespielt. Deutlich wird dies durch die Serie der Kriege von Mysore, verkörpert durch den Sultan Tipu. Tipu wurde im 4. Krieg von Mysore (1789-1799) bei Srirangapatnam getötet. Der britischen Vorherrschaft wurde damit ein weiteres Tor geöffnet, den Franzosen eine weitere Tür zugeschlagen. Der lang andauernde Kampf der Briten mit den Marathen endete erst 1803 und ließ lediglich den Punjab außerhalb britischer Kontrolle. Nach zwei Kriegen gegen die Sikha bekamen die Engländer im Jahr 1849 aber auch noch diesen Teil Indiens in die Hände. Ihre Fühler streckten die Briten Sogar nach Nepal aus, das sie zwar besiegten, aber nicht annektierten, und nach Burma, das sie in ihre Herrschaft einbezogen.

Aufstieg und Fall des britischen Indiens: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten die Engländer es endgültig geschafft, ganz Indien in ihre Gewalt zu bekommen. Zu großen Teilen lag dies daran, dass durch die Unfähigkeit der Moguln eine schmerzliche Lücke entstanden war. Die Engländer hielten es wie der erfolgreiche Akbar und erkannten die schwachen Stellen. Ihnen ging es in Indien einzig und allein um das Geldverdienen. Die Kultur, die Religion und den Glauben ließen sie völlig außer acht. Man sagte den neuen Kolonialherren nach, dass sie sich solange nicht um die Religion eines Inders kümmerten, wie er ihnen eine gute Tasse Tee zubereiten konnte. Darüber hinaus verfügten die Briten über eine disziplinierte, einsatzfähige Armee und scharfsinnige politische Berater. Die handelten einseitige Verträge aus, die den Engländern das Interventionsrecht sogar in lokalen Angelegenheiten einräumten, sofern die Inder sich als unfähig erwiesen. Wann eine einheimische Verwaltung allerdings unfähig war. Bestimmten die Engländer.

Auch unter englischer Kolonialherrschaft blieb Indien ein Vielstaatenland, in dem viele Provinzen dem Papier nach zwar unabhängig waren, in der Praxis aber unter strenger britischer Kontrolle standen. An der Strategie der kleinen Staaten oder Fürstentümer, beherrscht von Maharadschas, Navobs oder ähnlichen Potentaten, änderte sich bis zur Unabhängigkeit auch nichts. Erst dann wurden sie für Indien ein weiteres Problem. Die englischen Wirtschaftsinteressen lagen  bei der Förderung von Eisen und Kohle, der Entwicklung des Anbaus von Tee, Kaffee und Baumwolle sowie dem Bau des weitverzweigten indischen Eisenbahnnetzes. Sie unternahmen auch gewaltige Anstrengungen beim Bau von Bewässerungsanlagen, die in der Landwirtschaft eine Revolution brachten. Und förderten andere wichtige und nützliche Entwicklungen. Was die Regierung und die Rechtsprechung betrifft, so hinterließ England dem Subkontinent Indien ein gut funktionierendes und hervorragend aufgebautes System. Die allgemein gefürchtete und dennoch so geliebte Bürokratie, die Indien von den Briten mit in die Wiege gelegt bekam, mag negativ sein, aber sie verhalf Indien immerhin dazu, nach seiner Unabhängigkeit eine bessere Organisation, eine besser arbeitende und weniger korrupte Verwaltung als viele andere ehemalige Kolonial-Staaten verfügbar zu haben. Aber England gab auch den Startschuss zu weniger hilfreichen Entwicklungen in Indien. So drängten sehr schnell billige Textilien aus den damals aufstrebenden. Textilfabriken in England nach Indien und legten dadurch die Produktion in den einheimischen indischen Betrieben völlig lahm. Die Engländer verboten auch die uralte indische Sitte (Sati), nach der die Witwe sich zusammen mit ihrem verstorbenen Mann auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließ, und förderten in den Provinzen das System des Zamindar (Steuerpacht). Die im Ausland lebenden Grundbesitzer erleichterten die Last der Verwaltung und das Eintreiben der Steuern für die Briten, trugen aber auch zur Verarmung der ausgelaugten und landlosen Bauern in weiten Teilen Indiens bei. Während der britischen Verwaltung wurde auch die englische Sprache als Amtssprache eingeführt. In einem so großen Land mit einer verwirrenden Vielfalt an Sprachen dient diese Gemeinsamkeit auch heute noch zur nationalen Verständigung. Die britische Unterkühltheit ließ es nicht selten dazu kommen, dass die Inder auf Abstand gehalten wurden oder sie sich den Briten gar nicht erst näherten.

Im, Jahr 1857, weniger als ein halbes Jahrhundert nachdem die Engländer Indien völlig unter Kontrolle bekommen hatten, erlitten sie ihren ersten Rückschlag. Bis zum heutigen Tag ist noch nicht ganz geklärt, worin die Gründe lagen, die zum Aufstand gegen die Briten führten. Es kann noch nicht einmal klar bestimmt werden, ob es wirklich der Unabhängigkeitskrieg war, der alles einleitete, oder lediglich eine einfache Meuterei. Vermutlich waren es viele Gründe, zum Beispiel die herunter gewirtschaftet Verwaltung sowie weitere Anässe. An einigen Orten könnten sich die Gemüter auch darüber erhitzt haben, dass man die unfähigen und unbeliebten Verwalter entlassen hatte. Der einzige wirkliche Grund war allerdings – ob Sie es glauben oder nicht – die Einführung neuer Gewehrmodelle. Glaubt man einem Gerücht, dann wurden diese besagten Gewehre an die Truppen verteilt, in denen neben den Hindus auch viele Moslems ihren Dienst versahen. Die neuen Waffen waren aber mit Rind- und Schweinetalg eingefettet, ein Greuel für Hindus und Moslems. Die Schweine waren nach Ansicht der Moslems unrein und die Rinder wiederum den Hindus heilig. Die Engländer nahmen die Gerüchte, die sie über diese Ereignisse erfuhren, entweder nicht Ernst oder waren zu langsam, und einen Fehler wollten sie sich schon gar nicht eingestehen. Dies alles war aber der besagte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte, denn Indien war voller Hass gegenüber den unbeliebten Eroberern, und ein zwar noch unsicheres Nationalgefühl fand immer mehr Nährboden im Volk. Zögernder Beginn war der nur locker koordinierte Aufstand indischer Bataillone der bengalischen Armee. Von den insgesamt 74 Bataillonen verhielten sich nur sieben den Briten gegenüber loyal (eines davon war ein Gurkha-Bataillon aus Nepal), 20 wurden entwaffnet, und die restlichen 47 probten den Aufstand. Er brach in Meerut (nahe Delhi) aus, und schon bald sprang der Funke auch auf das übrige Nord-Indien über. Unvorstellbare Massaker und Grausamkeiten spielten sich auf beiden Seiten ab. Zermürbende Belagerungen, Maßgebende Siege und hinhaltende Verteidigungen waren auf beiden Seiten an der Tagesordnung. Am Ende erstarb der Aufstand eher, als dass er ein schlüssiges Ende fand. Über den Norden Indiens hinaus kamen diese Unruhen sowieso nicht. Obwohl genügend fähige indische Führer vorhanden waren, gab es nie eine Zusammenfassung aller Kräfte oder gar ein gemeinsames Ziel.

Zwei Schritte unternahmen die Briten nach dem Aufstand. Zunächst waren sie klug genug, nicht nach Sündenböcken zu suchen oder Rachefeldzüge zu führen. Rache und Kriegsbeute waren eher ein inoffizielle Sache und fanden auf anderer Ebene Statt. Der Zweite Schritt war die Liquidation der East India Company. Die Verwaltung des Landes ging über Nacht in die Hände der Britischen Regierung über. Das Ende des Jahrhunderts war aber auch die Blütezeit des britischen Imperiums, in dem die Blütezeit des britischen Imperiums, in dem die Sonne nie unterging und an dessen Himmel Indien der glänzende Stern war. Parallel dazu ebneten aber zwei andere Entwicklungen Ende des 19. Jahrhunderts Indiens Weg zur Unabhängigkeit. Zunächst waren die Briten immer häufiger willens, Inder in die Verantwortlichkeit zu nehmen, und taten dies auch, sodass häufig Inder Entscheidungen fällten, wo früher nur Engländer das Sagen hatten. Mehr und mehr fasste auch die Demokratie in Indien Fuß, obwohl die britische Regierung noch überall ihre Hand im Spiel hatte. Bei den zivilen Behörden wurde es immer mehr Indern möglich, auch höhere Posten zu bekleiden, die vorher ausschließlich den Kolonialherren vorbehalten waren.

Zur gleichen Zeit erlebte aber auch der Hinduismus eine Wiederbelebung und Angleichung an bestehende Verhältnisse. Die Hindu-Religion ist eine der ältesten Religionen der Welt, die es aber vor langer Zeit versäumt hatte, zur Zeit des Erblühens des Buddhismus mit der Masse seiner Anhänger in Kontakt zu bleiben und ihre Bedürfnisse zu erspüren. Dies wurde nun zum zweiten Mal bittere Wahrheit und erforderte ein komplettes Umdenken und rasches Handeln, um sie aus ihrer Rolle herauszuholen, die sie als reine Religion nur der Priester und der hohen Brahmanenkaste spielte. Bedeutende Reformer, zu denen Ram Mohal Roy, Ramakrishna und Swami Vivekananda gehörten, griffen drastisch durch und veränderten die Gesellschaft der Hindus. Sie waren Wegbereiter des heutigen Hinduismus, einer Religion mit so starken Elementen, daß auch die moderne westliche Welt sich von ihr angezogen fühlt.

Um die Jahrhundertwende flackerte die Opposition gegen die britische Herrschaft erneut auf. Der Kongress, der zu dem Zweck gegründet worden war, Indien einen gewissen Grad der Selbstverwaltung einzuräumen, drängte unruhig nach Eigenständigkeit. Auch außerhalb des Kongresses wuchs der Unmut und die Forderung nach Unabhängigkeit; einzelne Hitzköpfe waren nicht immer zimperlich in der Wahl ihrer Mittel, um an ihr Ziel zu gelangen. Als sich die Engländer Immer mehr in die Verteidigung gedrängt fühlten suchten sie schließlich nach einem Weg, Indien in die Unabhängigkeit zu entlassen. Dieser Weg sollte dem ähneln, den sie in Kanada und Australien gegangen waren. Der erste Weltkrieg änderte nichts an diesem Plan, denn die Ereignisse in der Türkei, einem moslemischen Land, waren ein Signal auch für viele indische Moslems. Nach Kriegsende sah es ernster aus als je zuvor, und als Führer der Unabhängigkeitsbewegung gewann Mahatma Gandhi immer mehr an Bedeutung. Sein alles überstrahlender Stern ging über Indien auf.

Gandhi und der gewaltlose : Im Jahre 1915 kehrte Mohandas Karamchand Gandhi aus Südafrika zurück. Er hatte dort als Rechtsanwalt praktiziert. In Indien verschrieb er sich voll und ganz der Aufgabe, das Unrecht zu beseitigen, dem sich viele indische Siedler gegenübergestellt sahen. Sehr bald aber steckte er sich ein noch größeres Ziel: die Unabhängigkeit seines Landes. Dies vor allem nach dem grausamen Massaker von Amritsar im Jahr 1919, als Angehörige der britischen Armee das Feuer auf eine unbewaffnete Gruppe von protestierenden Indern eröffnet hatten.

Gandhi, der sich nun Mahatma – die große Seele – nannte, beschritt den Weg des passiven Widerstandes oder des “Satyagraha” gegen die englische Vorherrschaft. Größtes Anliegen war ihm zunächst, den Unabhängigkeitskampf von der Ebene des Mittelstandes herunterzuholen und ihn in einen Kampf der Dorfbevölkerung umzuwandeln. Gandhi rief eine Bewegung ins Leben, die zum Ziel hatte, die ungerechte Salzsteuer abzuschaffen, rief zum Boykott gegen englische Textilien auf und war ständiger Gast in den englischen Gefängnissen, denn die Behörden fanden immer wieder Gründe, ihn festzusetzen.

Leider folgten nicht alle seinem Beispiel des gewaltlosen Widerstandes und der völligen Aufgabe der Zusammenarbeit mit den Kolonialisten, sodass es zeitweise auch ein bitterer und blutiger Kampf wurde. Dennoch, die Kongresspartei und Mahatma Gandhi waren auf dem Vormarsch, aber vor dem Ende des 2. Weltkrieges war kein Ende in Sicht. Dann war aber endgültig der Zeitpunkt erreicht, Indien die Unabhängigkeit zu gewähren, zumal der Krieg dem Kolonialismus einen tödlichen Stoß versetzt hatte und der Mythos der europäischen Überlegenheit endgültig untergegangen war. England hatte nicht länger die Macht und auch nicht den Wunsch, ein so riesiges Reich aufrechtzuerhalten, in dem Indien vor allen anderen Kolonien das größte Problem darstellte. Die große moslemische Minderheit hatte begriffen, daß ein unabhängiges Indien auch ein hinduistisches sein würde und dass, ganz abgesehen von dem sehr fairen Gandhi, die anderen Mitglieder im Kongreß nicht gewillt sein würden, die Macht zu teilen.

Die Unabhängigkeit: Am Ende des 2. Weltkrieges war klar, dass die Ära des europäischen Kolonial-herrentums zu Ende war. Indien musste unabhängig werden. Aber wie? Die Weigerung des Kongresses, in Verhandlungen mit den Moslems zu treten, kam als Bumerang zurück, indem die Moslems die Forderung erhoben, Pakistan von Indien abzutrennen und einen unabhängigen Staat zu schaffen. Das jähe Ende des 2. Weltkrieges nach dem Abwurf von Atombomben über Japan und der Sieg der Labour Party in England im Juli 1945 erforderten eine schnelle Lösung für das indische Problem. Man war im Zugzwang. Wahlen in Indien brachten die Tatsachen dann an den Tag und legten alles offen: Das Land war aufgrund der religiösen Gegebenheiten gespalten. Der Liga der Moslems, deren Anführer Muhammad Ali Jinnah zugleich Sprecher der überwältigenden Mehrheit der Moslems war, standen Anhänger der Congress Party (Kongreß-Partei), angeführt durch Jawaharlal Nehru und gestützt auf die hinduistische Bevölkerungsteile, gegenüber. Mahatma Gandhi blieb zwar die Vaterfigur für die Kongress-Partei, allerdings ohne ein offizielles Amt und, wie die Geschichte beweisen sollte, mit schwindendem politischen Einfluss.

“Entweder wir bekommen ein geteiltes Indien oder rein vernichtetes Indien”, hieß es. Demgegenüber stand das starke Verlangen der Kongress-Partei nach einem unabhängigen Groß-Indien, und jeder Tag, der ungenutzt vorüberging, ließ die Gefahr größer werden, dass neues Blutvergießen und neue Streitereien beginnen könnten. Zu Beginn des Jahres 1946 bemühte sich eine britische Kommission vergeblich, die beiden feindlichen Parteien zu einen. Indien steuerte nun unaufhaltsam einem Bürgerkrieg entgegen. Im August 1946 war es so weit: Die Moslems riefen zum “Direct Action Day” auf, einem unmittelbaren Angriff, in dessen grausamen Verlauf unzählige Hindus in Kalkutta ihr Leben lassen mussten. Dies nahmen die Hindus zum Anlass, einen ebenso fürchterlichen Rachefeldzug zu führen. Da alle Versuche, beide Seiten zur Einsicht zu bringen, scheiterten, fasste die britische Regierung im Februar 1947 einen schnellen Entschluss. Der damalige Vizekönig, Lord Wavell, sollte durch Lord Louis Mountabatten ersetzt und die Unabhängigkeit im Juni 1948 endlich Realität werden.

Aber im Gebiet des Punjab im Norden war inzwischen das Chaos ausgebrochen, und in Bengalen drohte das gleiche. Der neue Vizekönig unternahm einen einen letzten verzweifelten Versuch, die Gegner zu versöhnen und sie davon zu überzeugen, daß ein geeintes Indien eine gute Sache sei. Aber man blieb uneinsichtig, vor allem Jinnah, und schweren Herzens musste man der Teilung Indiens zustimmen. Nur Gandhi stand fest und unerschütterlich mit seiner Meinung da, lieber einen Bürgerkrieg und ein totales Chaos in Kauf zu nehmen als Indiens Teilung.

Wie in so vielen anderen Ländern der Erde auch, schien eine saubere Teilung des Landes zur schier unlösbaren Aufgabe zu werden. Obwohl es reine moslemische und reine hinduistische Gebiete gab, existierten aber auch Regionen, in denen die Bevölkerung zu gleichen Teilen beiden Religionen angehörte. Viel schlimmer war es mit den Gebieten, in denen isolierte Inseln mit Moslems umgeben waren von Hindus. So richtig klar wird die Unmöglichkeit einer solchen Teilung dadurch, dass Indien nach der endgültigen Teilung immer noch der Staat mit der drittgrößten moslemischen Bevölkerung blieb. Nur in Indonesien und Pakistan lebten noch mehr Moslems. Indien zählt auch heute noch zu seiner Bevölkerung mehr Moslems als irgendein anderes arabisches Land. Das Schlimme war nur, dass sich die Moslems an den gegenüberliegenden Seiten des Landes konzentriert hatten. Pakistan hätte somit einen westlichen sowie einen östlichen Teil gehabt und ein feindliches Indien in seiner Mitte. Die Instablilität dieses Staatswesens war offensichtlich. Dennoch dauerte es 25 Jahre, bis die vorausgesagte Teilung Wirklichkeit wurde und aus Ost-Pakistan das heutige Bangladesch entstand.

Weitere Probleme tauchten erst nach der Unabhängigkeit auf. Pakistan litt unter dem Mangel an Verwaltungskräften und geistigen Führern, mit denen Indien so reichlich versorgt war. Das waren Berufe, in welche die Moslems nie vorgedrungen waren. Dazu gehörten auch die Gelderleiher, eine Domäne der Hindus. Nicht zu vergessen die unglücklichen Unberührbaren, die nämlich nicht nur die Schmutzarbeit für die höheren Hindu-Kasten verrichteten, sondern auch den Moslems dienten.

Lord Mountabatten entschloss sich zum schnellen Handeln und bestimmte als Tag der Unabhängigkeit den 14. August 1947. Die Historiker zerbrechen sich seitdem die Köpfe, ob nicht viel Blutvergießen hätte verhindert werden können, wenn der recht so übereilt gehandelt hätte. Nachdem die Entscheidung aber gefällt war, das Land zu teilen, zog dies endlose weitere Entscheidungen nach sich; nicht zuletzt diejenige, wie überhaupt die Trennungslinie zu verlaufen habe. Eines war klar: Würde man die Entscheidung einheimischen Schiedsrichtern überlassen, würden auf beiden Seiten kämpferische Maßnahmen dagegen aufflackern. Daher übertrug man diese schier unlösbare Aufgabe britischen Fachleuten, die schon vor Beginn ihrer Tätigkeit wussten, dass sie – wie immer sie sich auch entschieden – einer Unzahl von Menschen Unrecht tun müssten. Am schwierigsten war die Aufgabe in Bengalen und im Punjab. Früher war Kalkutta, mit einer moslemischen Mehrheit unter der Bevölkerung, mit seinen Hafenanlagen und Jutefabriken von Ostbengalen abgetrennt. Folge war, dass eine Majorität von Moslems mit einer Juteproduktion als Haupt Industriezweig vorhanden war, aber ohne eine einzige Jutefabrik für die Weiterverarbeitung und ohne einen günstigen Hafen für den Export.

Größer noch waren die Probleme in Punjab, wo der Widerstand seinen absoluten Höhepunkt erreicht hatte. Eines der fruchtbarsten und wirtschaftlich gesündesten Gebiete wurde hier von Hindus (30 %) und Moslems (55 %) bewohnt, aber auch von den militanten Sikhs. Das Problem Punjab und die zu ziehende Grenze bargen alle Voraussetzungen für ein in die Geschichte eingehendes Unheil in sich. Nur wenige Tage nach der Unabhängigkeit wurde die neue Grenze bekanntgegeben, und schon erhoben sich Massen dagegen. Das folgende Blutbad war viel grausamer, als es Pessimisten je erwartet hatten. Für ganz Indien brach eine Zeit der Flüchtlingsströme an: Moslems zogen nach Pakistan und Hindus nach Indien. Im Punjab war diese Völkerbewegung am stärksten. Die neue Grenzlinie verlief genau auf halber Strecke zwischen den beiden größten Städten des Punjab: Lahore und Amritsar. Vor der Unabhängigkeit hatte Lahore eine Bevölkerung von etwa 1,2 Mio.; darin waren ca. 500.000 Hindus und 100.000 Sikhs enthalten. Als sich die Stürme der großen Flüchtlingsbewegungen gelegt hatten, verblieben ganze 1.000 Hindus und Sikhs in Lahore.

Viele Monate lang fand quer durch den Punjab der größte Exodus seit Menschengedenken statt. Vollbesetzte Züge mit Moslems, auf der Flucht nach Westen, erlebten Angst und Schrecken, weil die Züge unterwegs angehalten wurden und die Hindus und Sikhs die Fahrgäste regelrecht abschlachteten. Aber die von Osten her flüchtenden Hindus und Sikhs erlitten unter dem aufgebrachten moslemischen Mob das gleiche Schicksal. Die schnell in das Krisengebiet entsandte Armee war überhaupt nicht in der Lage, Ordnung zu schaffen. Machmal war sie sogar bereit, an dem Gemetzel der Partisanen teilzunehmen. Am Ende dieser Schreckensperiode im Punjab hatten 10 Mio. Menschen ihre Heimat verlassen. Viel schlimmer aber war noch, dass auch nach sehr vorsichtigen Schätzungen etwa eine viertel Million Menschen getötet worden war. Es kann auch eine halbe Million gewesen sein. Eine weitere Million war von Bengalen auf der Flucht. Die endgültige Spaltung des Punjab war keineswegs der alleinige Grund für das Blutbad. Weiteres Kopfzerbrechen bereitete den Verantwortlichen dass sich während der britischen Ära viele kleinere Fürstentümer erhalten konnten. Sie galt es in ein unabhängiges Indien und Pakistan zu integrieren. Garantien von weitreichenden und umfassenden Ausmaßen trugen dazu bei, die meisten Potentaten davon zu überzeugen, dass ein Anschluss von drei Enklaven an eines der Länder allerdings ungelöst. Ein Staat war Kashmir, mit einer vornehmlich moslemischen Bevölkerung, aber einem hinduistischen Bevölkerung, aber einem hinduistischen Maharadscha. Als sich dieser Maharadscha im Oktober aber immer noch nicht für Indien oder Pakistan entscheiden konnte, überschritt eine plündernde Pathanen-Armee die Grenze von Pakistan her. Ihre Absicht war es, nach Srinagar vorzustoßen und Kaschmir zu annektieren, ohne einen offenen Konflikt zwischen Indien und Pakistan heraufzubeschwören. Schlechte Karten aber hatten die Pakistani deshalb, weil sie den pöbelnden Pathanen die eroberten Gebiete zur Plünderung freigegeben hatten, um sie so noch mehr zu motivieren. Die Plünderer nahmen diese Aufforderung allzu Ernst und hielten sich deswegen unterwegs länger auf, als dies gut war. Das gab den Indern Zeit, ihrerseits Soldaten nach Srinagar zu entsenden, um eine Einnahme der Stadt durch die pakistanische Armee zu verhindern. Der bis dahin noch unentschlossenen Maharadscha stimmte nun einem Anschluß an Indien zu, war wiederum einen kurzen indisch-pakistanischen Krieg auslöste. Helfer in der Not waren UN-Truppen. Sie marschierten nach Kaschmir ein, aber das Problem blieb ungelöst. Kashmir ist bis heute ein Schwelbrand zwischen beiden Staaten. Wegen der moslemischen Mehrheit und der geographischen Gegebenheiten gehört Kaschmir einwandfrei zu Pakistan. Dies wird auch von einem großen Teil der Bevölkerung befürwortet. Aber Kaschmir ist Kaschmir, und Indien verstand es bisher sehr geschickt und konsequent, eine längst versprochene Volksbefragung zu umgehen. So sind Indien und Pakistan bis heute durch eine Demarkationslinie geteilt, die keine der beiden Seiten als offizielle Grenze anerkennt.

Ein besonders tragisches Ereignis während des Unabhängigkeitskampfes muss noch hervorgehoben werden. Am 30. Januar 1948 fiel Gandhi dem Attentat eines hinduistischen Fanatikers zum Opfer. Gandhi war bis zu seinem Tod zutiefst unzufrieden mit der Teilung Indiens und erschüttert durch das dadurch ausgelöste Blutvergießen.

Das unabhängige Indien: Seit Erlangung der Unabhängigkeit unternahm Indien Riesenschritte nach vorn, sah sich aber auch enormen Problemen gegenübergestellt. Hilfreich war jedoch, dass Indien nicht, wie so viele andere Länder der Dritten Welt, die durch Diktaturen geknechtet sowie in die Knie gezwungen worden waren und Militärregierungen oder Invasionen über sich ergehen lassen müssen, geschwächt war, sondern sich auf eine starke Regierung und ihre Institutionen verlassen konnte. Wirtschaftlich verzeichnete Indien fühlbare Fortschritte, besonders im Bereich der Landwirtschaft. Und die indische Industrie erkämpfte sich im Laufe der Jahre sogar den 10. Platz unter den Industrienationen.

Indiens erster Premierminister, Jawaharlal Nehru, versuchte mit aller Kraft, eine Politik ohne Allianz mit einem anderen Weltstaat zu betreiben, also blockfrei zu bleiben, obwohl Indien natürlich noch immer mit England eng verbunden war. Dies war den auch häufig der Grund für Unstimmigkeiten, wenn man über die Frage des Imperialismus diskutierte. Trotz der guten, Vorsätze, sich an keine Großmacht zu binden, schloss Indien sich im Laufe der Jahre doch etwas näher mit Russland, zusammen. Dies hatte teilweise seinen Grund darin, dass man gemeinsam Ärger mit China hatte und der Erzfeind Pakistan von den USA unterstützt wurde. Seinen festen Willen zu einem friedlichen Verhalten warf Indien allerdings seit der Unabhängigkeit dreimal über Bord, auch wenn Gandhi sein Volk dazu aufgerufen hatte, unter allen Umständen in Frieden zu leben. Dreimal nämlich kam es zum Krieg mit Pakistan (1948, 1965, 1971), weil man sich wieder einmal wegen Kaschmir oder Bangladesch in die Haare geraten war. Grenzkonflikte ergaben sich auch mit China, denn Indien beansprucht noch immer das Gebiet von Aksai Chin in Ladakh, das China 1962 besetzte.

Diese außenpolitischen Konflikte lenkten häufig von den ernsten innenpolitischen Problemen ab. Wie andere Länder der Dritten Welt kämpft auch Indien einen verzweifelten Kampf gegen die Bevölkerungsexplosion. Sie ist das Problem Nummer eins. Die Energiekrise der frühen 70er Jahre meisterte Indien erstaunlich gut, der grünen Revolution diente sie als guter Werbefeldzug. Ob dies aber auch für die Zukunft ausreicht, bleibt abzuwarten.

Indiras Indien: Politisch war Indiens größtes Problem seit Erlangung der Unabhängigkeit der Personenkult, mit dem sich die Regierenden umgaben. Praktisch gab es seitdem lediglich zwei Premierminister: Nehru und seine Tochter Indira Gandhi (ohne verwandtschaftliche Beziehungen zu Mahatma Gandhi). Nachdem Indira Gandhi 1966 die Wahlen gewonnen hatte, sah sie sich 1975 einer starken Opposition und ernsthaften Unruhen gegenübergestellt. Ihre Antwort bestand daraus, dass sie den nationalen Ausnahmezustand ausrief. Der führt in vielen Ländern leicht zu einer Diktatur. Während der Zeit dieses Notstandes beschritt sie viele Wege guter, aber auch schlechter Politik. Befreit von sämtlichen sonst so lästigen und einengenden parlamentarischen Zwängen bekam sie die Inflation bemerkenswert schnell und gut in den Griff, kurbelte die Wirtschaft an und erhöhte entschlossen die Leistungsfähigkeit des Landes. Auf der Negativseite konnten ihre Gegner verbuchen, dass sie leider allzu oft in die Schranken gewiesen wurden, denn die Gerichte Indiens wurden ein reines Marionettentheater. Der Presse wurde Fesseln angelegt, und mehr als einmal beobachtete man Andeutungen der Selbstverherrlichung, wie es zum Beispiel der verhängnisvolle Plan eines “Volksautos” von Sanjay Gandhi bewies. Ein ähnlich unglückseliges Programm war die von der Regierung forcierte Sterilisation, ebenfalls eine Idee ihres Sohnes Sanjay, die ungeheuren Ärger nach sich zog. Obwohl Gerüchte über die Unzufriedenheit des Volkes durch das Land zogen, von denen Indira sehr wohl wusste, entschied sie sich dafür, 1977 Wahlen auszurufen. Damit wollte sie ihre Notstandsgesetze bestätigt sehen. Ihr Sohn Sanjay hatte dringend von diesen Wahlen abgeraten, und sein Rat stellte sich als weise heraus, denn Indira erlitt mit ihrer Kongress-Partei eine bittere Niederlage. Die schnell gegründete Janata-Partei konnte als Volkspartei einen Wahlsieg feiern.

Die Janata-Partei aber hatte sich leider nur eines auf das Banner geschrieben: Indira zu bekämpfen. Nach der gewonnen Wahl besaß sie kein Konzept. Ihr Führer, Moraji Desai, schien nichts anderes im Auge zu haben, als die Kühe zu schützen, den Alkohol zu verbannen und Wert darauf zu legen, sein tägliches Glas Urin pünktlich zu trinken. Er versuchte erst gar nicht, die Probleme des Landes anzupacken. So stieg die Inflationsrate wieder in die Höhe, Unruhen nahmen zu und die Wirtschaft stagnierte. Es wunderte niemanden, dass Janata Ende 1979 in Ungnade fiel und die Wahlen von 1980 Indira Gandhi wieder an die Macht kommen ließen; diesmal allerdings gestärkt durch eine Mehrheit wie nie zuvor.

Rundreisen: Indien - Nepal - Bhutan

Kaisar Ashoka

Die bei weitem größte Figur in der langen Geschichte des Maurya-Reiches war Ashoka, Chandraguptas Enkel. Ashoka war fast unbekannt, mit Ausnahme einer vagen Erwähnung in den Puranas, die bis vor 100 Jahren eine der ältesten historischen Aufzeichnungen darstellten. Verschiedene Inschriften aus dieser Periode, im Brahmi-Schriftsystem verfasst, beziehen sich auf einen König namens Devanamapiya Piyadassi, Liebling der Götter. 1915 entdeckte und entzifferte man eine weitere Inschrift und fand heraus, dass der König auch Ashoka Piyadassi hieß. Eine zeitgenössische ceylonesische Chronik, die Mahavamsa, bestätigt die Theorie, dass Kaiser Ashoka mit dem Devanamapiya der Inschriften identisch ist. Es hat Jahre gedauert, die zahlreichen Erlasse von Ashoka zu entziffern. Sie sind in Fels gehauen, in Metall sowie in monolithische Säulen und im ganzen Land zu finden. Sie stellen eine wichtige Quelle der Maurya-Geschichte dar und sind auch eine Art Biographie Ashokas. Als Ashoka den Thron im Jahr 273 v. Chr. bestieg, gehörten zum Maurya-Reich fast ganz Indien und ein großer Teil Zentralasien, das von Vizekoenigen regiert wurde.Ashoka diente auch als Vizekoenig von Taxila, der Hauptstadt der nordwestlichen Provinzen. Nur die südliche Spitze Indiens und Kalinga (nun Orissa) im Osten blieben unabhängig. Ashoka hat nie die Roben eines buddhistischen Mönches getragen. Die Dharma (Pflicht) der Kshatriyaverlangte, dass er das Landverwalte und beschütze.

Die buddhistischen Institutionen wurden während seiner Herrschaft neu organisiert. Der dritte buddhistische Rat fand in Pataliputra im Jahr 250 v. Char. Stat, und der Kaiser war darum bemüht, die Lehre Buddhas im Land und auch außerhalb zu verbreiten. Ashoka starb 232 v. Chr., nach 41 Jahren an der Macht. “Unter den Zehntausenden Namen von Monarchen, die sich an den Säulen der Geschichte drängen”, schreibt H.G. Wells in seiner Outline of History”… glänzt der Name Ashokas, und er glänzt fast alleine … Mehr Menschen halten heute sein Andenken in Ehren als das von Konstantin oder Karl dem Großen.” Ashoka drängte anderen seinen Glauben nicht auf. Die verbreitete Interpretation, dass der Buddhismus zu einer Arts Staatsreligion wurde, ist falsch. Ashoka selbst sagte, dass alle Glaubensrichtungen Verehrung verdienen. Und obwohl er einige tausend Stups im ganzen Land errichten ließ, Stiftungen an Klöster machte und den Buddhismus in jeder Weise förderte, erhielten Zentren hinduistischen Lehre und Anbetung weiterhin die Unterstützung des Hofes, und die brahmanisch ausgebildete Elite busselte nichts von ihrer Macht ein. Ashokas Glaube regte zu Gewaltlosigkeit und Vegetarismus an, was sicherlich die Hindus beeinflusste, von denen die meisten kein Fleisch mehr aßen. Doch entgegen seiner Betonung von Toleranz und religiösem Eklektizismus war es sein Glaube an das spartanische buddhistische Ethos, das ihn dazu brachte, Festlichkeiten und Versammlungen zu verbieten.

Ashoka führte ein System königlicher Touren ein, Dharma Yatra (Touren der Pflicht) genannt. Dhamma ist die buddhistische Nomenklatur des Sanskritbegriffes Dharma, beide Wörter bedeuten “Pflicht”. Der Brauch entstand aus seinem Wunsch, die Orte zu besuchen, an denen Buddha gelebt und gelehrt hatte. In Bodh Gaya hat er erstmals direkten Kontakt mit seinen Untertanen. Zum ersten Mal sprach ein Kaiser mit den Massen, erläuterte seine Politik und fand Lösungen für die Probleme seines Volkes. Königliche Exkursionen waren bald an der Tagesordnung. Für Ashoka stellten sie ein nützliches Mittel dar, um Beamte zu kontrollieren, besonders in den entlegenen Gegenden des Reiches. Das Konzept der königlichen Touren der Pflicht wurde erweitert und schloss auch Missionen außerhalb des Landes mit ein. Seinen Erlassen zufolge schickte Ashoka Abgesandte und Botschafter mit seinen Grüßen und der Lehre Buddhas an die Höfe von Syrien, Ägypten, Mazedonien und Epirus. Er verheiratete seine Tochter Sanghamitra mit einem Adligen aus Nepal, und von hier aus hat sie wahrscheinlich die Lehre des Vierfachen Pfades nach Tibet und China gebracht. Mahinda, sein Sohn, wurde nach Ceylon gesandt, und andere Familienmitglieder gingen mit buddhistischen Doktrinen nach Zentralasien, Burma und Siam.

Indien: Das Regierungssystem

Indien verfügt über ein parlamentarisches System, das Gemeinsamkeiten mit dem Regierungssystem der USA besitzt. Im wesentlichen gibt es zwei Häuser des Parlaments – ein Unterhaus, bekannt als das Lok Sabha (Haus des Volkes), und ein Oberhaus (Rajya Sabha) als Vertretung der Länder. Das Unterhaus setzt sich aus bis zu 500 Abgeordneten zusammen und wird für 5 Jahre nach dem Mehrheitswahlrecht in Wahlkreisen gewählt, während die ca. 250 Mitglieder des Oberhauses von den Landtagen entsandt werden; nur 8 Mitglieder des Oberhauses bestimmt der Staatspräsident. Wie in England das House of Representatives kann das Unterhaus in Indien aufgelöst werden. Aber anders als in England oder Australien ist das beim Oberhaus nicht möglich. Der bundesstaatliche Aufbau Indiens trägt der außergewöhnlichen Vielfalt des Landes Rechnung, sodass Indien heute aus 28 Bundesstaaten und 9 Unionsterriritorien besteht. Die Länderregierungen besitzen eigene gesetzgebende Versammlungen (Vibhan Sabha). Staatsoberhaupt ist der Staatspräsident. Er wird von einem Wahlmännergremium gewählt, das sich aus Mitgliedern des Ober- und Unterhauses sowie der Landtage zusammensetzt. Der Staatspräsident ist lediglich eine Galionsfigur, während der Premierminister die Macht ausübt. Die Zuständigkeiten für die Verwaltung liegen entweder in den Händen der Zentralregierung oder sind Ländersache und sind in der Verfassung festgelegt. So ist die Zentralregierung z. B. zuständig für Verteidigung, auswärtige Angelegenheiten, Währung und Kredit, Verkehrswesen, Zölle, Steuern. Die Bereiche Polizei, Erziehung, Landwirtschaft und Industrie sowie Gesundheitswesen sind Ländersache. Es gibt auch Angelegenheiten, die sowohl von den Länderregierungen als auch von der Zentralregierung behandelt werden; im Zweifelsfall geniesst der Gesamtstaat die Priorität. Alle erwachsenen Inder sind wahlberechtigt. Außerdem sieht die Verfassung einen Schutz für Minderheiten vor. Hierzu zählt der Schutz der Harijans und anderer Stammesgruppen, die sich noch überall im Land finden.

Die Kongresspartei

Gandhi riet Nehru und Sardar Patel, den zwei Giganten der Freiheitsbewegung, die Kongress-Partei nach der Unabhängigkeit aufzulösen und eine neue Partei mit gleichgesinnten Kollegen zu gründen, um die erste Regierung des freien Indien zu bilden. Er warnte sie davor, dass es Dissens, Eifersucht, Gerangel um Positionen und Macht von seiten jener geben würde, die ihre Zugehörigkeit zur Kongresspartei betonten, aber tatsächlich ganz anders geartete politische Einstellungen hatten. Von ihrer Gründung im Jahr 1885 als eine, Organisation für die geistige, moralische, gesellschaftliche und politische Regeneration der Menschen Indiens” bis 1947 und dem Fortgang der Briten wurde die Kongresspartei immer stärker und entwickelte sich zu einer wirklichen Nationalbewegung, die in sich eine heterogene vereinte. Alle indischen Religionen waren in ihr repräsentiert, und so unterschiedliche Personen wie extreme rechte Hindus, orthodoxe Moslems, Demokraten, Sozialisten, Kommunisten, Moderate, Liberale, bombenwerfende Militante, Intellektuelle, Philosophen, Traditionelle und sogar einige Engländer gehörten zur buntgemischten Crew der Kongresspartei. Die Befreiung Indiens von britischer Herrschaft war ihr einziges Bindeglied. 

Dieser sie vereinende Faktor fiel am 15. August 1947 weg, und Nehru schenkte Gandhis Warnung keine Beachtung. Mit aufrichtigem Idealismus glaubte er, diese ideologisch so heterogene Gruppe zusammenhalten zu können. Doch bald führten seine Differenzen mit Sardar Pate, dem pragmatischen Innenminister, dessen energisches Taktieren die Integration der Fürstentümer bewirkt und der eine streng kapitalistische Einstellung zur Wirtschaft hatte, zum Rücktritt des Ministers. Dies war der Anfang der Querelen innerhalb der Kongresspartei.

Trotz ihrer Heterogenität hatte die Partei in Krisenzeiten stets ein geeignetes Auftreten gezeigt. Als Nehru 1964 starb, wurde Lal Bahadur Shastri einstimmig zu seinem Nachfolger ernannt. Obwohl er so ziemlich das Gegenteil von Nehru war und dessen Statur, Anziehungskraft und westliche Orientierung vermissen liess, war er entschlossen in seinen politischen Entscheidungen und führte einen neuen und ganz und gar indischen Führungsstil ein. Doch 18 Monate später starb er durch einen Herzanfall während der indisch-pakistanischen Friedensgespräche (1966) in Taschkent. Diesmal war die Frage der Nachfolge nicht so einfach, denn es gab einige qualifizierte Kandidaten für die Position der Premierministers. Doch die Kongresspartei befasste sich mit dem Problem der Führung auf schnelle und effiziente Weise und bot die Position Indira Gandhi als einziger möglicher Kompromisskandidatin an (die zu diesem Zeitpunkt ein politischer Niemand war). Das Volk bestätigte die Entscheidung der Partei bei den Wahlen von 1971. Die Ermordung Indira Gandhis ließ das Land nur für einige Stunden führerlos: Die Kongresspartei votierte einstimmig für Rajiv Gandhi als vorläufigen Premierminister, eine Maßnahme, die das Volk wieder bei den Wahlen von 1985 für gut hieß und der Partei eine überwältigende Mehrheit gab. Nach Rajiv Gandhis Ermordung trat P.V. Narasimha Rao dessen Nachfolge an. Bei den nächsten Wahlen verlor die Kongresspartei die Macht in Indien.

Rundreisen  Indien - Nepal - Bhutan

MUSEEN UND GALERIEN
Lange Zeit hatte man Delhi als langweilige Verwaltungsstadt und kulturelles Brachland ohne eigene Tradition abgetan. Doch in den letzten Jahrzehnten erlebte sie durch die Blüte der darstellenden und bildenden Kunst sowie die explosionsartige Entstehung von Kunstgalerien und Museen einen wahren kulturellen Boom. Als die Briten ihre glanzvolle neue Hauptstadt erbauten, hielten sie es nicht für notwendig, auch nur einen einzigen Kulturtempel zu errichten. Heute verfügt Delhi dagegen über 20 Museen und Dutzende von Kunstgalerien, die dem Besucher eine ausgezeichnete Vorstellung von Reichtum und Vielfalt der klassischen, volkstümlichen und zeitgenössichen indischen Kunst vermitteln. Hier nun eine Beschreibung der wichtigsten Museen und Galerien.

Das Nationalmuseum: Obgleich es erst 1960 erbaut wurde, besitzt das National-museum eine ungewöhnlich umfangreiche Sammlung, die ständing erweitert wird. Ihren Kern bildete eine Ausstellung im Burlington House in London 1947/48, zu der einige der schönsten Gemälde, Skupturen und Dekorationsstücke aus den Museen des Landes zusammengetragen worden waren. Die Sammlung umfaßt die indische Kunst von der Urgeschichte bis zur klassischen Periode vom 3. vorchristlichen Jahrhundert bis ins 17. Jahrhundert (der Blützeit der Stein-und Bronzeplastik), ferner Miniaturmalereien, Textilien, dekorative Kunst, Waffen, Stammes-kunst, zentralasiatische und präkoumbische Antiquitäten, Kleidung und Musik-instrumente. Daneben gibt es Sonderausstellungen mit wechselnden Exponaten aus dem eigenen Bestand oder mit Leihgaben fremder Museen.

Den Rundgang beginnt man am besten in der ersten Galerie auf der linken Seite, die die Entwicklung des Menschen in Indien von vor einer halben Million Jahren bis ca. 2000 v. Chr. aufzeigt, einschließlich der großen Induskultur, die 2500 v. Chr. in Mohenjo Daro und Harappa im heutigen Pakistan entstand. Die Funde von Mohenjo Daro lassen auf eine Zivilisation schließen, die über geplant angelegte Städte verfügte, einen hochentwickelten Lebensstil pflegte und Beziehungen zu anderen östlichen Kulturen unterhielt. Auffallend sind vor allem die feingeformten Spielzeuge, Keramikwaren, Schmuckstücke und kleinen Statuen sowie Siegel mit Schriftzeichen, die bis heute nicht entziffert sind.

Die nächste Galerie leitet über zur historischen Periode der indischen Kunst und beschäftigt sich vor allem mit der Maurya-Dynastie (3. Jahrhundert v. Chr.) und der Sunga-Dynastie (2. Jahrhundert v. Chr.). Die Maurya-Periode zur Zeit des großen Kaisers Ashoka zeichnet sich besonders durch monumentale Säulen aus, die von Tierkapitellen gekrönt werden. Die Bronzereplik einer Ediktsäule von Ashoka zur Festlegung des Sittenkodex kann im Museumsgarten bewundert werden.

Drei große indische Schulen der Bildhauerkunst aus Nord-, Süd-und Zentral-indien (1.-3.Jahrhundert n. Chr.) sind in der nächsten Galerie zu finden. Besondere Aufmerksamkeit verdienen der Bodhisattwa aus gesprenkeltem roten Sandstein, die Buddha-Köpfe im griechisch-römischen Stil aus Gandhara in Nordin-dien (das die Griechen unter Alexander dem Großen erobert hatten) sowie einige herrliche Tafeln und Friese mit Szenen aus dem täglichen Leben, die aus den Ruinen von Nagarjunakonda in Südindien, einem damals bedeutenden Zentrum des Buddhismus, stammen. Auf der linken Seite befinden sich die Gupta-Galerien mit wundervollen Plastiken aus einer Zeit, die für ihren monumentalen und gleichzeitig anmutigen Stil bekannt ist (4.-6. Jahrhundert).

Die früh mittelalterlichen Galerien (6.-12.Jahrhundert) zeichnen sich durch die Steinbilder der Pala- und Sena-Dynastie aus Ostindien, die verzierten Fensterstürze des südindischen Königreichs von Hampi und die Pallava-Plastiken aus Ostindien, die verzierten Fensterstürze des südindischen Königreichs von Hampi und die Pallava-Plastiken aus Mahabalipuram aus.

Im Erdgeschoß befinden sich ferner die beiden Sonderausstellunges der Bronze-Galerie und der Buddhistischen Galerie. Die bronzenen Chola-Plastiken (10. Jahrhunter), vor allem die tanzenden vierarmigen Nataraj-Figuren (deren kitschige Repliken in indischen Souvenirläden verkauft werden), strahlen eine magische Anziehungskraft aus. Die 1990 eröffnete Buddhistische Galerie lockt mit den 1972 in Piprahwa in Utter Pradesh ausgegrabenen Relikten von Buddha zahlreiche Besucher an. Ästhetisch reizvoller sind jedoch die Buddha-Skulpturen verschiedener Stilrichtungen-der apolloähnliche Kopf aus Gandhara, die klassisch anmutig geformten Szenen aus dem Leben von Buddha aus Sarnath und zwei äußerst ungewöhnliche Stuckhäupter aus Zentralasien.

Im ersten Stock befinden sich die Dauerausstellungen über Miniaturmalerei, Manuskripte und zentralasiatische Antiquitäten sowie einige Räume für Sonderausstellungen. Die auf zwei Galerien verteilten zentralasiatische Antiquitäten ziehen Gelehrte und Kunsthistoriker zus aller Welt an. Sie sind die Früchte zweier Expeditionen, die Sir Aurel Stein 1900-1916 entlang der alten Seidenstraße nach China unternommen hatte. In dieser Region trafen die verschiedensten Völker, Kulturen, Kunstrichtungen und Religionen aufeinander, wie die hier gefundenen Skulpturen, Münzen, Seidenstoffe, Wandgemälde und Keramikwaren aus dem 3. bis 12. Jahrhundert beweisen. Glanzstück der Sammlung sind die großen Wandgemälde, die leider im angrenzenden Archäologischen Museum in düsteren, schlecht beleuchteten Räumen nicht zur Geltung kommen.

Die Geschichte der indischen Malerei in der Galerie zur Linken ist der ganze Stolz des Nationalmuseums: Es handelt sich um die wohl umfangreichste Sammlung indischer Miniaturen. Aus der von persischen Künstlern am Hof der Moguln eingeführten Miniaturmalerei entwickelten sich mehrere indische Schulen. Mit viel Liebe zum Detail und leuchtenden Farben werden verschiedenste Themen dargestellt: Tiere und Pflanzen, Episoden aus Mythen und Legenden, Szenen des höfischen Lebens und Porträts. In diesen Räumen befinden sich auch die eigenartigen Gemälde der am europäischen Geschmack orientierten Company-Schule (18. und 19. Jahrhundert) sowie die dekorativen Tanjore-Gemälde aus Südindien, die zum Teil auf Glas gemalt sind und dadurch eine zauberhaft lasierende Wirkung erzielen.

Die umfangreiche Manuskripten Sammlung mit wundervoll illuminierten Handschriften auf Pergament und Palmenblättern liefert einen eindrucksvollen Überblick über die Buchkunst in Indien. Zu beachten sind auch die erlesen kalligraphierten und illuminierten Korane. Die Ausstellungsräume im zweiten Stock widmen sich der Anthropologie, präkolumbischen Kunst, dekorativen und angewandten Kunst, vor allem in den Bereichen Textilien, Metall, Jede, Waffen und Schnitzereien.

Anthropologische Galerie: Im Mittelpunkt steht hier die bemerkenswerte Sammlung von Verrier Elwin zur Stammeskunst aus den nordöstlichen Staaten Nagaland und Arunachal Pradesh sowie aus Ost-und Zentralindien. Stammeskostüme, Schmuck, Holzschnitzereien und Gebrauchsgegenstände sowie Fotos und Schaubilder geben Aufschluß über die Vielfalt der Volksstämme in Indien.  Waffengalerie: Die auf das 17. Jahrhundert zurückgehende Waffensammlung umfaßt sowohl Kampfwaffen als auch zeremonielle Waffen, die zum Teil erlesen verarbeitet, mit Juwelen oder Elfenbein besetzt und mit Gold ziseliert oder Elfenbein besetzt und mit Gold ziseliert sind.

Holzschnitzereien: Die Sammlung umfaßt Fragmente komplizierter Schnitzereien aus Holztempeln in Gujarat, Schreine, Tür-und Fensterrahmen mit Relieffiguren und geschnitzte Vertäfelungen von Tempelwagen aus Südindien. Dekorative Kunst: Den Textilien wird hier der meiste Platz eingeräumt – bestickte Kaschmirschals aus feinster Wolle, zarter Musselin, Brokatsaris und höfische Gewänder. Doch man findet auch Beispiele für Mogul-Jade, rituelle Metallampen, alte Münzen und Muster ornamentaler Kalligraphie.

Präkolumbische Kunst: Diese außergewöhnliche Sammlung ist dem indischen Kunsthändler Nasli Heeramaneck zu verdanken, der sich in New York niedergelassen hatte und sich mit den Kulturen auf dem amerikanischen Kontinent vom 9.Jahrhundert v. Chr. bis zur Ankunft von Kolumbus befaßte. Sie beinhaltet Terracottafiguren der Majas, Metall- und Holzwaren der Inkas sowie Kunstgegenstände nordamerikanischer Indianerstämme.

Nationalgalerie für Moderne Kunst: Das unter Sir Edwin Lutyens’ Leitung erbaute Herrschaftshaus des früheren Maharaja von Jaipur liefert heute den Rahmen für dieses Museum, das sich mit der Entwicklung der indischen Kunst von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die heutige Zeit beschäftigt. Neben Werken Einiger berühmter indischer Künstler aus dem frühen 20. Jahrhundert verdient vorallem die Sammlung von ,,Company-Gemälden“ aus dem 19. Jahrhundert Beachtung. Sie umfaßt auch britische Maler wie Thomas Daniells und Tilly Kettle, deren Ölgemälde, Aquarelle und Stiche indischer Landschaften und Monumente typisch für diese Periode sind.

Interessant sind auch die Werke des beliebtesten indischen Malers im ausgehenden 19. Jahrhundert, Raja Ravi Varma. Er bereiste die Fürstenstaaten und malte steife viktorianische Portraits sowie Szenen aus Hindu-Mythen und Legenden. Seine Werke wurden tausendfach vervielfältigt und zierten nahezu jedes bürgerliche Heim. Selbst heute ist Raja Ravi Vermas Einfluß auf die indische Ikonographie noch spürbar, wie an den überall erhältlichen religiösen Kalendern und Postern zu erkennen ist.
Darüber hinaus bietet die Nationalgalerie eine umfassende Darstellung dreier heraustragender indischer Maler: des Nobelpreisträgers für Literatur Rabindranath Tagore, dessen schriftstellerische Tätigkeit seine Malbegrabung lange Zeit in den Schatten stellte, Jamini Roy, der sich von der traditionellen Volkskunst der Bengalen inspirieren ließ, und Amrita Sher Gil, deren lebendige, leidenschaftliche Gemälde Szenen aus dem täglichen Leben einfangen.

Nehru Memorial Museum und Bibliothek: Das Museum ist Indiens erstem Premier-minister Jawaharlal Nehru gewidmet, der das ursprünglich für den britischen Oberbefehlshaber im imperialen Architekturstil von Lutyens erbaute Teen Murti House 16 Jahre lang bewohnte. Es wurde mitsamt der elf Hektar großen Rasenfläche, den Büschen und dem Rosengarten in seinem kolonialen Glanz erhalten und weist burmanische Teakholzvertäfelungen, solide Messingbeschläge und ein kupfernes Treppengeländer auf. Auch in den Räumen wurde nach Nehrus Tod 1964 nichts verändert. Gerade diese private Atmosphäre macht das Museum besonders anziehend, gewährt es doch einen Einblick in das Leben dieses genügsamen und zugleich eleganten Mannes. Die Räume quellen förmlich über von abgegriffenen Büchern, und überall stehen Schalen mit Rosen – denn Nehru steckte sich jeden Tag eine ins Knopfloch.

Die Fotogalerie mit Nehrus Zeitgenossen kommt einem Who’s who von Persönlichkeiten aus aller Welt gleich und ist gleichzeitig eine Einführung in die Geschichte der indische Freiheitsbewegung. Direkt neben dem Museum liegt die Bibliothek, die über die beste Sammlung von Privatpapieren, Büchern und Mikrofilmen über die moderne indische Geschichte verfügt. Im Garten findet jeden Abend (außer während des Monsuns) eine Ton- und Lichtschau statt.

Tibet-Museum: Dieses kleine, aber faszinierende Museum unter kundiger Leitung eines gelehrten Lama zeigt Glanzstücke der tibetischen Kunst-und Handwerkstradition, die eine einzigartige Mischung chinesischer, indischer und nepalesischer Traditionen mit einheimischen Stilrichtungen darstellt. Besondere Erwähnung verdient die schöne Sammlung alter thangkas aus dem 15. bis 18. Jahrhundert. Diese bemalten Gebetsfahnen, die die Mauern tibetischer Klöster schmückten, wurden aus allen Teilen Tibets zusammengetragen.

Die Schmuckexponate umfassen Ohrringe, Gürtel, Börsen, Medaillons und silbernen Haarschmuck, die mit riesigen Korallen und Türkisen besetzt sind. Im oberen Stockwerk befinden sich eine Bibliothek mit seltenen Handschriften und im Erdgeschoß ein Laden mit einigen Antiquitäten, guten Repliken der ausgestellten Schmuckstücke und rituellen Gegenstände, ferner gewirkte Stoffe und Kräutermedizin.

Sanskriti Museum für Alltagskunst: Die kleine, bezaubernde Privatsammlung reicht von Ikonen und Statuen aus Hausaltären über groß Keramikkrüge zur Aufbewahrung von Öl bis hin zu dekorativen Kämmen, Spiegein, Toilettenartikeln und traditionellen Küchenutensilien. Alle hier gezeigten Gegenstände verbinden auf eine perfekte Art Schönheit und Nützlichkeit. Der Besitzer des Museums, O.P. Jain, hat indische Dörfer und Städte durchkämmt und einige seiner wertvollsten Exponate auf Schrottplätzen entdeckt.

Gandhi Memorial Museum: Wer hier eine große Vielzahl von Memorabilien erwartet, wird sicherlich enttäuscht sein, da Gandhi seinen persönlichen Besitz auf das Notwendigste beschränkte: Eine zerbrochene Brille, Holzsandalen, ein Stock, ein Lendentuch und natürlich das Spinnrad waren sein gesamten irdischen Besitztümer. Daneben zeige das Museum eine große Sammlung historischer Fotografien aus Gandhis Leben und seiner Zeit, eine Bibliothek mit Büchern von ihm und über ihn sowie einige Gemälde, die Episoden aus seinem Leben darstellen.

Luftwaffenmuseum: Diese herrliche Sammlung alter Flugzeuge umfaßt unter anderem einen Sikorsky-Hubschrauber, den japanischen Ohka-Flieger der Kami kazepiloten, ein historisches Wapiti, das 1929 als erstes Flugzeug durch den Khyber-Paß flog, Spitfires und Hurricanes sowie verschiedene andere Flugzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg, die die Amerikaner nach Kriegsende in Indien zurückgelassen hatten.

Nationalmuseum für Naturgeschichte: Vor allem Schulkinder sind von den Exponaten und dem phantasievollen ,,Dis-covery Room“begeistert, wo sie seltene Arten untersuchen und betasten, lebende Tiere beobachten und malen können. In den letzten Jahren hat sich das Museum zu einem wichtigen Zentrum für Umwelterziehung entwickelt: Täglich finden dort Filmvorführungen über Ökologie und anschauliche Vorlesungen übe Natur-und Artenschutz statt.

Die audiovisuelle Präsentation der Evolution ist eine gute Einführung in die nachfolgenden Exponate – Fossilien, ein Aquarium, eine Sammlung von Vogeleiern und ausgestopften Vögeln und daneben ein Brutapparat, in dem man das Schlüpfen von Küken beobachten kann.

Konstgalerien: In Delhi ist es zu einem Boom der Kunstgalerien gekommen, seit der Markt in den letzten drei Jahren enorm ausgedehnt hat und den zeitgenössischen indischen Künstlern nun die Anerkennung zuteil wird, die sie verdienen, Es werden Werke aus verschiedensten Materialen. Von Glasfasern und Acryl bis hin zu Terrakotta und Holz, ausgestellt. Die Stilrichtungen sind teils avantgardistisch, teils von der traditionellen indischen Ikonographie inspiriert oder an die Volks- und Stammeskunst angelehnt.

Garhi: Idealer Ausgangspunkt für die Erkundung der modernen Kunstszene in Delhi ist Garhi, ein von der Lalit Kala Akademi (Nationale Akademie der Schönen Künste) geschaffener Atelier-komplex. Trotz seiner Lage im verkehrs-belasteten südöstlichen Stadtteil East of Kailash ist Garhi eine Oase der Ruhe, abgeschirmt von der Hektik der Stadt. Der anheimelnde frühere Landsitz liegt

in einem weitläufigen, von einer Mauer begrenzten Mogulgarten mit alten Bäumen, einem Brunnen, Steinpavillons und Ställen, die inzwischen in Ateliers umgewandelt wurden. Schon beim Durchschreiten des imposanten Torbogens wird man gewahr, daß man eine Stätte der Kunst betritt: Allerorts sieht man an Baumstümpfe gelehnte Skulpturen, auf den Veranden aufgestellte Gemälde und Lithographiesteine.

Garhi besitzt vier große Gemeinschaftsateliers für Malerei, Graphik, Plastik und Keramik sowie zehn Einzelateliers. Man kann hier direkt bei den Künstlern zu sehr viel niedrigeren Preisen als in den Galerien einkaufen.

Die derzeit führende kommerzielle Kunstgalerie in Delhi ist Art Heritage in Triveni Kala Sangam, mitten im Kulturzentrum von Delhi. Jahr für Jahr präsentiert sie mindestens 15 der führenden indischen Künstler in Retrospektiven, aber auch die aktuellen Werke. Nur wenige Gehminuten von Art Heritage entfernt liegen drei weitere Galerien, die einen Besuch lohnen – Shridharani Gallery, LTG Gallery und Lalit Kala Gallery.

Zu den ältesten Galerien in Delhi zählt das Dhoomi Mal Art Centre am Connaught Place. Es zeigt die Werke einer Vielzahl etablierter indischer Maler und Bildhauer. Die Inhaber sind freundlich und hilfsbereit. Ebenfalls am Connaught Place befindet sich das noch relative neue Centre for Contemporary Art, das mit seinen Präsentationen zeitgenössischer Kunst in dieser Saison bereits große Erfolge erzielt hat.

Die dynamische und unternehmungslustige CMC Gallery organisiert ,,Kunstlager“ in ganz Indien und stellt dann die besten Arbeiten aus.

Zwei ausgezeichnete Galerien befinden sich in Hauz Khas Village, Delhis exquisitem neuem Einkaufszentrum: Die Village Gallery bemüht sich, insbeson-dere führende Maler aus Kalkutta und Bombay zu zeigen, deren Werke anson-sten in Delhi nur selten zu sehen sind. Indar Pasricha Fine Arts ist etwas eklektischer, aber nicht weniger interessant. Hier werden sowohl zeitgenössische Landschaftsbilder als auch Stiche aus dem 19. Jahrhundert oder seltene Textilien und Stickereien ausgestellt.

Auf dem für seine Antiquitätenläden bekannten Sundar Nagar Markt kann man wunderbar herumstöbern. Die interessante Kumar Gallery ist eine der wenigen in Delhi, die sich mit Stammeskunst befaßt. Hier gibt es Perlen und Holzmasken aus Nagaland, bronzene Tierfiguren und Dorfgötter, Hornschnitzereien und Spielzeug aus Zentralindien.

Weitere etablierte Kunstgalerien in Delhi sind Studio One, Habiart Gallery, Gallerie Ganesha, All India Fine Arts and Crafts Society und Gallery Aurobindo. Das India International Centre ist zwar keine Kunstgalerie, präsentiert jedoch häufig hochkarätige Ausstellungen. Eine Reihe ausländischer Kulturzentren verfügt ebenfalls über Galerien, doch die Exponate stehen nicht immer zum Verkauf. Zu ihnen gehören die Gallerie Romain Rolland, Max Muller Bhavan und das American Centre

.Rundreisen: Indien - Nepal - Bhutan

Die Streitfrage: ist Indien zivilisiert?

Ein Buch mit diesem etwas überraschenden Titel wurde vor einigen Jahren von Sir John Woodroffe, dem bekannten Gelehrten und Autor von Werken über tantrische Philosophie, veröffentlicht, um ein extravagantes jeu d’esprit von William Archer zu beantworten. Dieser bekannte Theaterkritiker hatte sein gewohntes natürliches Arbeitsfeld verlassen und sich auf ein Gebiet begeben, auf dem sein Anspruch auf Kommentar vollendete und kühne Unwissenheit war. Er griff das gesamte Leben und die Kultur Indiens an und warf die größten Errungenschaften dieses Landes – Philosophie, Religion, Dichtung, Malerei, Skulptur, Upanischaden, Mahabharata, Ramayana – in einen Topf, in dem er sie als abstoßende Masse unsagbarer Barbarei einhellig verdammte. Damals vertraten viele die Ansicht, auf einen Kritiker seiner Art zu antworten, hieß es, einen Schmetterling oder vielleicht in diesem Fall eine Hummel zu rädern. Aber Sir John Woodroffe vertrat beharrlich den Standpunkt, daß selbst eine Attacke aus solcher Unwissenheit nicht ignoriert werden dürfe. Er nahm sie als ein besonders nützliches Beispiel von allgemeiner Art auf, erstens, weil sie die Frage vom rationalistischen und nicht vom christlichen und missionarischen Standpunkt aus aufwirft, und zweitens, weil sie die zugrundeliegenden gröberen Motive all solcher Attacken aufgedeckt. Sein Buch war jedoch nicht so sehr als Antwort auf einen bestimmten Kritiker wichtig, sondern weil er mit großer Schärfe und Kraft die gesamte Frage des Überlebens der indischen Zivilisation und der Unvermeidbarkeit eines Krieges zwischen den Kulturen aufwarf.
Die Frage, ob es in Indien eine Zivilisation gab oder gibt, ist nicht mehr strittig; denn all jene, deren Meinung etwas gilt, erkennen die Gegenwart einer besonderen und großen Zivilisation, die ihrem Charakter nach einzigartig ist, an. Sir John Woodroffes Anliegen war es, den Konflikt zwischen europäischer und asiatischer Kultur offenzulegen, und mehr als das die besondere Bedeutung und den besonderen Wert der indischen Zivilisation aufzuzeigen, die Gefahr, in der sie sich jetzt befindet, und das Unheil, das ihre Zerstörung für die Welt bedeuten würde. Der Autor hielt ihre Bewahrung für ungemein wichtig für die Menschheit und war der Ansicht, sie befinde sich in großer Gefahr. Im Verlaufe der rapiden Wandlungen, die sich im Gefolge des gegenwärtigen Tornados von Umstürzen in der Welt ergeben, könnte die Kultur des alten Indien, attackiert vom europäischen Modernismus, überwältigt im materiellen Bereich, verraten von der Indifferenz ihrer Kinder, auf immer Zugrundegehen – zugleich mit der Seele der Nation, die sie in Händen hält. Das Buch war eine dringende Aufforderung an uns, dieser heiligen Treuepflicht mehr gerecht zu werden, die nahende Gefahr zu erkennen, die sie bedroht, und in der Stunde der Prüfung fest und treu unseren Mann zu stehen. Es dürfte nützlich sein, als Einführung zu dieser überaus wichtigen Frage knapp den Inhalt des Buches in seinen wesentlichen Aussagen zusammenzufassen.
Wahre Zufriedenheit in dieser Welt ist das rechte irdische Ziel des Menschen, und wahre Zufriedenheit liegt im Entdecken und Bewahren einer natürlichen Harmonie von Geist, Mental und Körper. Eine Kultur hat ihren Wert in dem Maße, in dem sie den rechten Schlüssel zu dieser Harmonie gefunden und die sie ausdrückenden Motive und Bewegungen organisiert hat. Und eine Zivilisation ist zu beurteilen nach der Art, in der all ihre Prinzipien, Vorstellungen, Formen, Lebensweisen darauf hinarbeiten, jene Harmonie zustande zubringen, ihr rhythmisches Spiel zu lenken und ihr Fortdauern oder die Entwicklung ihrer Motive sicherzustellen. Eine Zivilisation, die dieses Ziel verfolgt, kann überwiegend materiell sein wie die moderne europäische Kultur, überwiegend mental und intellektuell wie die alte griechisch-römische oder vorwiegend spirituell wie die immer noch fortdauernde Kultur Indiens. Indiens zentrales Konzept ist das des Ewigen, des Geistes, der hier in die Materie eingefaßt ist, involviert und ihr immanent, und sich auf der materiellen Ebene evolviert durch Wiedergeburt des Individuums, die Stufenleiter des Seins aufwärts, bis er im mentalen Menschen in die Welt der Ideen und den Bereich bewußter Sittlichkeit, dharma, eintritt. Diese Errungenschaft, dieser Sieg über die unbewußte Materie, entwickelt seine Grundlinien, erweitert seinen Bereich, erhöht seine Ebenen, bis die wachsende Manifestation des sattwischen oder spirituellen Teiles des mentalen Mediums das individuelle mentale Wesen im Menschen in den Stand setzt, sich mit dem reinen spirituellen Bewußtsein jenseits des Mentals zu identifizieren. Indiens Gesellschaftssystem ist auf diesem Konzept errichtet. Seine Philosphies formuliert es. Seine Religion ist ein Aufstreben zum spirituellen Bewußtsein und Früchten. Seine Kunst und Literatur sind in Gleicher Weise aufwärts gerichtet. Sein ganzes Dharma oder sein Daseinsgesetz ist auf ihm begründet. Fortschritt hat seinen Platz in diesem Konzept, aber es ist der spirituelle Fortschritt, nicht der äußerliche Selbstentfaltungsprozeß einer immer mehr prosperierenden und leistungskräftigen materiellen Zivilisation. Die Begründung des Lebens auf diesem hohen Konzept und der Drang zum Spirituellen und Ewigen sind es, die den besonderen Wert von Indiens Zivilisation ausmachen. Und es ist seine Treue – mit welchen menschlichen Mängeln auch immer – zu diesem höchsten Ideal, die sein Volk zu einer gesonderten Nation in der Menschenwelt gemacht hat.
Aber es gibt andere Kulturen, die von einem anderen Konzept und sogar einem entgegengesetzten Motiv geleitet werden. Und durch das Gesetz des Kampfes, welches das erste Daseinsgesetz im materiellen Universum ist, geraten verschiedene Kulturen unweigerlich in Konflikt miteinander. Ein tief-verwurzelter Drang in der Natur treibt sie zu dem Versuch, sich auszuweiten, die unvereinbaren Elemente oder Gegensätze zu zerstören, zu assimilieren und zu ersetzen. Konflikt ist in der Tat nicht das letzte und ideale Stadium;  denn dieses tritt ein, wenn verschiedenartige Kulturen frei, ohne Haß, Mißverständnis oder Aggression, ja mit einem fundamentalen Gefühl der Einheit, ihre gesonderten Motive entwickeln. Aber solange das Prinzip des Kampfes vorherrscht, muß man sich dem niederen Gesetz stellen; es ist fatal, wenn man sich mitten in der Schlacht entwaffnet. Die Kultur, die ihre lebendige Sonderung aufgibt, die Zivilisation, die eine aktive Selbstverteidigung vernachlässigt, wird verschlungen warden, und die Nation, die durch sie lebte, wird ihre Seele verlieren und zugrunde gehen.
Jede Nation ist eine Shakti oder Kraft des evolvierenden Geistes in der Menschheit und lebt durch das Prinzip, das sie verkörpert. Indien ist die Bharata Shakti, die lebendige Energie eines großen spirituellen Konzepts, und Treue zu ihm ist das ureigene Daseinsprinzip Indiens. Durch dieses Prinzip nur ist es eine der unsterblichen Nationen. Dies allein war das Geheimnis seiner erstaunlichen Dauer und seiner ständigen Überlebens- und Erneuerungskraft.
Das Prinzip des Kampfes erhielt den weiten historischen Aspekt eines zeitalterlangen Zusammenstoßes und Konfliktdruckes zwischen Asien und Europa. Dieser Zusammenstoß, dieser wechselseitige Druck hatte seine materielle Seite, aber wies auch einen kulturellen und spirituellen Aspekt auf. Sowohl materiell wie spirituell hat Europa sich wiederholt auf Asien geworfen, Asien ebenfalls Europa, um zu erobern, zu assimilieren und zu dominieren. Es gab eine ständige Wechselfolge, ein Vor-und Zugrückfluten dieser beiden Meere von Macht. Ganz Asien hatte stets die spirituelle Tendenz mit mehr oder weniger Intensität, mit mehr oder weniger Klarheit; aber in dieser essentiellen Angelegenheit ist Indien die Quintessenz der asiatischen Seinsweise. Auch Europa besaß zur Zeit des Mittelalters eine Kultur, bei der durch das Dominieren des christlichen Gedankens – das Christentum war jedoch asiatischen Ursprungs – das spirituelle Motiv die Führung übernahm. Damals gab es eine wesenhafte Ähnlichkeit ebenso wie einen gewissen Unterschied. Dennoch war die Differenz kulturellen Temperaments im Ganzen gesehen konstant. Seit einigen Jahrhunderten ist Europa materiell, raubgierig, aggressiv geworden und hat die Harmonie des inneren und äußeren Menschen, die die wahre Bedeutung von Zivilisation und die wirksame Grundbedingung für wahren Fortschritt ausmacht, verloren. Materieller Komfort, materieller Fortschritt, materielle Effektivität sind zu den Göttern geworden, die Europa anbetet. Die moderne europäische Zivilisation, die in Asien eingedrungen ist und die alle gewaltsamen Angriffe auf indische ideale repräsentiert, ist die wirkungsvolle Form dieser materialistischen Kultur. Indien hat, im Einklang mit seinem spirituellen Motiv, nie an den physischen Angriffen Asiens auf Europa teilgenommen. Seine Methode war stets Infiltration der Welt mit seinen Gedanken und Ideen, ein Vorgang, den wie auch heute wieder beobachten. Aber es ist nun physisch von Europa besetzt, und diese physische Eroberung muß notwendigerweise mit einem Versuch kultureller Eroberung in Verbindung gebracht werden. Auch jene Invasion hat einigen Fortschritt erzielt. Auf der anderen Seite hat die englische Herrschaft Indien in den Stand gesetzt, seine Identität und seinen Gesellschaftstypus noch zu bewahren. Sie hat das Land sich selbst gegenüber erweckt und hat es, bis es sich seiner Kraft bewußt wurde, gegen die Flut geschützt, die andernfalls seine Zivilisation ertränkt und zerbrochen hätte. Es ist nun Sache Indiens, seine Kräfte zurückzugewinnen, seine kulturelle Existenz gegen den Fremdeinfluss zu verteidigen, den eigenen gesonderten Geist, sein Wesensprinzip und seine charakteristischen Formen zum eigenen Heil und zum Gesamtwohl der menschlichen Rasse zu bewahren.
Aber es werden viele Fragen aufgeworfen, so vor allem diese: Ist ein solcher Geist der Verteidigung und des Angriffs der rechte Geist, sind Vereinigung, Harmonie, Austausch unser rechtes Temperament für den kommenden menschlichen Fortschritt? Ist nicht eine vereinigte Weltkultur der breite Pfad der Zukunft? Kann eine übertrieben spirituelle oder eine übermäßig weltliche Zivilisation die gesunde Grundlage für menschlichen Fortschritt oder menschliche Vollkommenheit sein? Eine glückliche oder gerechte Aussöhnung dürfte ein besserer Schlüssel zur Harmonie von Geist, Mental und Körper sein. Und dann haben wir noch die Frage, ob die Formen indischer Kultur ebenso intakt gehalten bleiben müssen wie der Geist. Die Antwort des Autors auf diese Fragen findet sich in seinem Gesetz von der schrittweisen Entfaltung des spirituellen Fortschritts der Menschheit, ihrem Erfordernis, durch drei aufeinanderfolgende Stadien voranzuschreiten.
Die erste Stufe ist die Periode des Konflikts und Wettstreits, die in der Vergangenheit stets vorherrschte und die Gegenwart der Menschheit immer noch überschattet. Denn selbst wenn die gröbsten Formen des materiellen Konflikts abgeschwächt sind, überlebt der Konflikt als solcher dennoch, und der Kulturkampf tritt mehr in den Vordergrund. Die zweite Stufe bringt das Stadium des Einvernehmens. Die dritte und letzte ist gekennzeichnet durch den Geist des Opfers, bei dem sich jeder, weil alles als das eine Selbst erkannt ist, zum Wohle der anderen gibt. Die zweite Stufe hat für die meisten noch kaum begonnen; die dritte gehört einer nicht bestimmbaren Zukunft an. Einzelne haben die höchste Stufe erreicht. Der vervollkommnte Sannyasin, der befreite, Mensch, die Seele, die eins geworden ist mit dem Geist, kennt alles Sein als sich selbst, für ihn sind alle Selbst-Verteidigung und aller Angriff ohne Nutzen. Denn Wettstreit gehört nicht zum Gesetz seiner Vision: Opfer und Selbstgabe sind das Prinzip seines Handelns. Aber kein Volk hat dieses Niveau erreicht, und einem Gesetz oder Prinzip unfreiwillig oder unwissend zu folgen oder entgegen der Wahrheit des eigenen Bewusstseins, ist falsch und selbstzerstörerisch. Wenn man sich töten läßt wie das vom Wolf angegriffene Lamm, so bringt dies kein Wachstum, wird keine Entwicklung gefördert, kein spirituelles Verdienst sichergestellt. Einvernehmen oder Einheit mögen zur angemessenen Zeit kommen, aber es muß eine tiefere Einheit sein mit freier Differenzierung, nicht ein Verschlingen des einen durch den anderen oder eine unstimmige und unharmonische Mischung. Auch kann sie nicht kommen, bevor die Welt für dieses größeren Dinge bereit ist. Die Waffen niederlegen im Kriegszustand heißt. Zerstörung einzuladen, und das kann keinem kompensierenden spirituellen Zweck dienen.
Das Spirituelle und das Weltliche müssen in der Tat vollkommen harmonisiert werden, denn der Geist wirkt durch das Mental und den Körper. Aber die rein intellektuelle oder vorwiegend materielle Kultur der Art, wie Europa sie jetzt bevorzugt, trägt in ihrem Herzen den Keim des Todes; denn das lebendige Ziel von Kultur ist die Verwirklichung des Himmelteiches auf Erden. Obwohl Indiens Drang auf das Ewige gerichtet ist, da dies stets das Höchste, das ganz und gar Wirkliche ist, bewahrt Indien in seiner eigenen Kultur und Philosophie noch eine höchste Aussöhnung des Ewigen mit dem Zeitlichen und braucht sie nicht außerhalb zu suchen. Auf der Grundlage desselben Prinzips ist die Form der wechselseitigen Abhängigkeit von Mental, Körper und Geist in gleicher Weise wichtig wie der reine Geist; denn die Form ist der Rhythmus des Geistes. Daraus folgt, daß ein Zerbrechen der Form bedeutet, den Selbstausdruck des Geistes zu schädigen oder ihn zumindest großer Gefahr auszusetzen. Ein Wechsel der Formen kann und wird erfolgen, aber die neue Formgebung muß ein neuer Selbstausdruck oder eine neue Selbstschöpfung sein, die von innen her entwickelt wird. Sie muß den Stempel des Geistes tragen und sollte nicht servil den Verkörperungen eine Fremdkultur entliehen sein.
Wo steht Indien nun wirklich in dieser kritischen Stunde der Not, und in wieweit kann man sagen, daß es noch fest verankert ist in seinen ewigen Fundamenten? Indien ist bereits weitgehend von europäischer Kultur in Mitleidenschaft gezogen, und die Gefahr ist längst nicht vorüber; vielmehr wird sie in der unmittelbaren Zukunft größer, beharrlicher, bedrängender und gewaltsamer sein. Asien erlebt seinen Neuaufstieg. Aber diese Tatsache selbst wird den Versuch intensivieren – und tut dies bereits -, der für das Gesetz des Wettbewerbs natürlich und legitim ist: den Versuch der europäischen Zivilisation, Asien zu assimilieren. Denn wenn Indien kulturell umgewandelt und bezwungen ist, dann wird dies, wenn das Land wieder in der materiellen Ordnung der Welt zählt, nicht verbunden sein mit einer drohenden Invasion Europas durch das asiatische Ideal. Es ist ein Kulturstreit, der noch weiter kompliziert wird durch eine politische Streitfrage. Asien muß kulturell zu einer Provinz Europas werden und politisch Teil einer Europäerviertel, wenn nicht europäischen Einheit sein; andernfalls könnte Europa kulturell zu einer Provinz Asiens werden, asiatisiert durch den dominierenden Einfluß wohlhabender, gewaltiger, mächtiger asiatischer Völker im neuen Weltsystem. Das Motiv von Archers Attacke ist frank und frei ein politisches Motiv. Der Refrain all seiner Rede ist, daß der Neuaufbau der Welt in den Formen einer rationalistischen und materialistischen europäischen Zivilisation geschehen müsse und deren Richtlinien zu folgen habe. Seinem Argument nach wird Indien, wenn es an seiner eigenen Zivilisation festhält, wenn es deren spirituelles Motiv hegt, wenn es bei ihrem spirituellen Grundprinzip bleibt, sich abheben von dieser hellen, leuchtenden, rationalistischen Welt als eine lebendige Weigerung, ein häßlicher Makel. Entweder muß es sein ganzes Wesen europäisieren, rationalisieren, materialisieren und durch diesen Wandel Freiheit verdienen, oder aber es muß unterworfen bleiben und von seinen kulturellen vorgesetzten verwaltet werden: sein Volk von vielen Millionen religiösen Wilden ist mit fester Hand niederzuhalten, zu unterweisen und zu zivilisieren von seinen edlen und erleuchteten, christlich-atheistischen europäischen Wächtern und Lehrmeistern. Eine groteske Aussage der Form nach, aber in der Substanz enthält sie den Kern der Sache. Was nun die Attacke betrifft – die nicht global ist, denn Verständnis und Würdigung der indischen Kultur sind jetzt mehr verbreitet als zuvor, so erwacht Indien und verteidigt sich gegen sie, aber nicht genug und nicht mit jener Beherztheit, klaren Schau und festen Entschlossenheit, die allein das Land aus der Gefahr befreien könnten. Heute ist diese nahe. Möge Indien seine Wahl treffen – denn die Wahl muß es jetzt treffen, zu leben oder zugrunde zugehen.
Man darf die Warnung nicht leicht nehmen; Äußerungen von europäischen Publizisten und Staatsmännern aus jüngerer Zeit sowie Bücher und Schriften, die gegen Indian gerichtet sind, und die Tatsache, daß sie von der Öffentlichkeit westlicher Länder mit Freude und Begeisterung aufgenommen wurden, weisen auf die Realität der Gefahr hin. In der Tat entspringt sie als Notwendigkeit der gegenwärtigen politischen Situation und dem kulturellen Trend der Menschheit in diesem Augenblick gewaltigen, entscheidenden Wandels. Wir brauchen dem Autor nicht in allen Ansichten zu folgen, die er in seinem Buch zum Ausdruck bringt. Ich selbst vermag nicht voll und ganz seiner Lobpreisung der mittelalterlichen Zivilisation Europas zu folgen. Dessen Interessen, die Schönheit seiner künstlerischen Motive, seine tiefen und aufrichtigen spirituellen Impulse sind für mich überschattet von seiner beträchtlichen Neigung zu Unwissenheit und Obskurantismus, seiner grausamen Unduldsamkeit, seiner abstoßenden früh-teutonischen Härte, Brutalität, Wildheit und Grobheit. Er scheint mir ein wenig zu hart mit der späteren eurpoäischen Kultur umzugehen. Dieser überwiegend ökonomische Zivilisationstypus war häßlich genug mit seiner Tendenz zu utilitaristischem Materialismus, und wir würden einen großen Fehler begehen, wenn wir diesen nachahmten; und dennoch erhielt er einen Aufwärtstrend durch einige Ideale, die viel für die Rasse getan haben. Aber selbst diese sind grob und unvollkommen in ihrer Form und müssen in ihrer Bedeutung spiritualisiert werden, bevor sie vom Mental Indiens ganz akzeptiert werden können. Ich denke auch, daß der Autor die Kraft der indischen Erneuerung ein wenig unterschätzt hat. Ich meine nicht ihre äußere aktuelle Kraft, denn diese ist sehr ungenügend, sondern die Unausweichlichkeit ihres Elans, ihrer spirituellen und potenziellen Kraft. Und er hat ein wenig zu viel gemacht aus dem Typ des servilen Inders, der dem überaus unterwürfigen Gedanken Ausdruck zu geben vermag, daß europäische Institutionen der Standard sind, an dem sich Indiens Bestrebungen orientieren. Abgesehen von der schnell dahinschwinden Klasse, der dieser Sprecher angehört, trifft dies jetzt nur in einem einzigen Bereich zu, dem politischen,- eine sehr wichtige Ausnahme, gewiß, und eine, die einer Gefahr von gewaltigem Ausmaß das Tor öffnet. Aber selbst hier deutet sich ein tiefer Geisteswandel an, obgleich er noch keine bestimmte Form angenommen hat und nun einer neuen Invasion von furiosem Europenismus entgegentreten muß, der von der militanten Grobheit des proletarischen Rußland inspiriert wird. Auch hier mißt er nicht dem wachsenden Vordringen indischen spirituellen Denkens in Europa und Amerika genügend Bedeutung bei, was Indiens bezeichnende Antwort auf die europäische Invasion ist. Von dieser Perspektive her bekommt die ganze Frage einen anderen Aspekt.
Sir John Woodroffe fordert uns zu einer entschlossenen Selbstverteidigung auf. Aber bloße Verteidigung kann im modernen Kampf nur in Niederlage enden, und wenn die Schlacht zu schlagen ist, so ist die einzig gesunde Strategie ein beherzter Angriff, der eine starke, lebendige und mobile Verteidigung als Grundlage hat; denn nur durch jene Aggressiv-kraft kann die Defensive selbst wirksam sein. Warum ist eine gewisse Klasse von Indern, immer noch in allen Bereichen hypnotisiert von der europäischen Kultur, und warum sind wir alle immer noch hypnotisiert von ihr im Bereich der Politik? Weil man ständig alle Kraft, Schöpfung, Aktivität auf Seiten Europas sah und alle Unbeweglichkeit oder Schwäche einer statischen kraftlosen Verteidigung auf Seiten Indiens. Doch wo immer der indische Geist zu reagieren vermochte, mit Energie angreifen und mit glänzendem Erfolg schaffen konnte, begann der europäische Glanz sogleich seine hypnotische Kraft zu verlieren. Niemand empfindet jetzt das Gewicht des religiösen Angriffs von Europa, der zu Beginn sehr stark war, weil die schöpferischen Aktivitäten der Hindu-Erneuerung die indische Religion zu einer lebendigen und wachsenden, einer stabilen, triumphierenden und selbstsicheren Kraft gemacht haben. Das Siegel wurde diesem Werk durch zwei Ereignisse aufgeprägt, durch die theosophische Bewegung und den Auftritt Swami Vivekanandas in Chicago. Beides zeigte die spirituellen Gedanken, für die Indien steht, nicht mehr in der Defensive, sondern aggressive eindringend in die materialisierte Mentalität des Okzidents. Ganz Indien war in seinen ästhetischen Vorstellungen vulgarisiert und anglisiert durch die englische Erziehung und den englischen Einfluß, bis die helle und plötzliche Morgenröte der bengalischen Kunstschule ihre Strahlen weit genug warf, um in Tokio, London und Paris gesehen zu werden. Dieses bedeutende kulturelle Ereignis hat bereits eine ästhetische Revolution im Lande herbeigeführt, bislang in keiner Weise vollständig, aber unwiderstehlich und der Zukunft gewiß. Dasselbe Phänomen gilt auch für andere Bereiche. Selbst im Bereich der Politik war dies der innere Sinn der Strategie der sogenannten Extremisten-Partei in der Swadeshi-Bewegung; denn es war eine Bewegung, die versuchte, die frühere scheinbare Unmöglichkeit politischer Schöpfung durch den indischen Geist nach anderen als imitierten europäischen Mustern aufzuheben. Wenn diese Bewegung einstweilen fehlschlug nicht aufgrund einer falschen Inspiration, sondern aufgrund feindlichen Drucks und der von einer vergangenen Dekadenz verbliebenen Schwäche-, wenn ihre anfänglichen Schöpfungen zerbrochen wurden oder dahinsiechten und ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt wurden, so wird sie doch als Wegweiser auf den Straßen bleiben. Der Versuch wird notwendigerweise erneuert werden, sobald ein weiteres Tor unter günstigeren Bedingungen geöffnet wird. Bis jener Versuch erfolgt und gelingt, bedroht eine ernste Gefahr die Seele Indiens; denn eine politische Europäisierung würde eine gesellschaftliche Wende derselben Art nach sich ziehen und kulturellen und spirituellen Tod in ihrem Gefolge bringen. Der Angriff muß erfolgreich und schöpferisch sein, wenn die Verteidigung wirksam sein soll. Wir müssen dieser großen Frage ihre weitere, weltumspannende Bedeutung geben, wenn wir sie in ihre wahren Perspektiven betrachten wollen. Das Prinzip des Konflikts und Wettbewerbs beherrscht noch immer die internationalen Beziehungen und wird dies auch in Zukunft für einige Zeit tun; denn selbst wenn Krieg in der nahen Zukunft aufgrund eines bislang noch unwahrscheinlichem glücklichen Geschickes abgeschafft wird, wird der Konflikt andere Formen annehmen. Gleichzeitig ist eine gewisse wechselseitige Nähe des Lebens der Menschheit das augenfälligste Phänomen des Tages. Der (Erste) Weltkrieg hat dies in grober Weise verdeutlicht; indessen bringt die Nachkriegszeit all seine Konsequenzen und die Fülle seiner Schwierigkeiten heraus. Dies ist bislang noch nicht wirkliches Einvernehmen und noch weniger der Anfang wahrer Einheit sondern nur ein erzwungenes physisches Einseins, das uns durch die Erfindungen der Naturwissenschaft und moderne Lebensumstände aufgezwungen wird. Aber dieses physische Einsein muß notwendigerweise seine mentalen, kulturellen und psychologischen Ergebnisse zeitigen. Zunächst wird es wahrscheinlich Konflikte in mancher Richtung eher zuspitzen als entschärfen, politische und wirtschaftliche Kämpfe vielfacher Art wachsen lassen und auch einen Kulturkampf beschleunigen. In diesem Bereich mag es am Ende eine verschlingende Vereinigung und eine Zerstörung aller anderen Zivilisationen durch einen aggressiven europäischen Typus herbeiführen. Ob jener Typus eine Wirtschaftsbourgeoisie oder ein Arbeiter-Materialismus sein wird oder ein rationalistischer Intellektuellismus, läßt sich nicht leicht voraussagen, aber dies ist gegenwärtig in der einen oder anderen Form die vorherrschende Realität. Auf der anderen Seite könnte es zu einem freien Einvernehmen mit einem tieferen Einseins führen. Aber das Ideal einer vollständigen Sonderung der Völker, wobei jedes von ihnen seine streng separierte Kultur entwickelt mit einem Zulassungsverbot für andere führende Gedanken und Kulturformen von außerhalb, wird sich wahrscheinlich nicht behaupten, obgleich es eine Zeitlang verbreitet war und an Kraft gewann. Wenn dies geschehen sollte, so müsste das ganze Ziel der Vereinigung, das sich in der Natur vorbereitet, in Stücke zerfallen, eine unwahrscheinliche, obschon nicht völlig unmögliche Katastrophe. Europa dominiert die Welt, und es liegt auf der Hand, eine verwestlichte Welt vorauszusagen mit nur geringfügigen Unterschieden solcher Art, wie sie in einer europäischen Einheit zulässig wären, die sich der rigorosen wissenschaftlichen Aufgabe der Entwicklung und Organisation des materiellen Lebens widmet. Über diese Möglichkeit fällt der Schatten Indiens.
Sir John Woodroffe zitiert die Behauptung von Professor Lowes Dickinson, der Gegensatz bestehe nicht so sehr zwischen Asien und Europa, als vielmehr zwischen Indien und dem Rest der Welt. Diese Aussage hat etwas Wahres an sich; aber der kulturelle Gegensatz zwischen Europa und Asien bleibt ein nicht ausgeschalteter Faktor. Spiritualität ist nicht das Monopol Indiens; wie auch immer sie sich im Intellektuellismus verbirgt  oder hinter anderen verhüllenden Schleiern verborgen liegt, ist sie doch ein notwendiger Bestandteil der menschlichen Natur. Aber man muß unterscheiden zwischen einer Spiritualität, die zum Leitmotiv und zur bestimmenden Kraft sowohl des inneren als auch des äußeren Lebens gemacht wird, und einer Spiritualität, die unterdrückt ist, die nur unter Masken hervortreten darf oder als eine mindere Kraft hereingebracht wird, wobei ihre Herrschaft zugunsten des Intellekts oder eines dominierenden materialistischen Vitalismus zurückgewiesen oder hintangestellt wird. Erstere war der Typus der alten Weisheit, der zeitweilig in allen zivilisierten Ländern – wortwörtlich, von China bis Peru – allgemein verbreitet war. Aber alle anderen Nationen haben sich von ihm entfernt und seine Vorherrschaft vermindert oder sich ganz von ihm entfernt wie in Europa. Oder sie befinden sich jetzt, wie in Asien, in Gefahr, ihn zugunsten des vordringenden ökonomischen, kommerziellen, industriellen, intellektuell utilitaristischen modernen Typus aufzugeben. Indien allein blieb, mit welchem Absinken oder welcher Verminderung von Licht und Kraft auch immer, dem Herzen des spirituellen Motivs tue. Indien allein leistet immer noch hartnäckigen Widerstand; denn die Türkei, China und Japan, so sagen seine Kritiker, sind jener Narrheit entwachsen, was sagen will, sie sind zugleich rationalistisch und materialistisch geworden. Ganz gleich, was Einzelne oder eine kleine Gruppe der Bevölkerung getan haben mögen, allein Indien als eine Nation hat sich bis jetzt geweigert, seine angebetete Gottheit aufzugeben oder seine Knie zu
beugen vor den starken herrschenden Idolen wie Rationalismus, Kommerziellismus und Ökonomik, den erfolgreichen ehernen Göttern des Westens. In Mitleidenschaft gezogen wurde es, aber noch nicht bezwungen. Mehr als seine tiefere Intelligenz mußte sein oberflächliches Mental viele westliche Ideen hereinlassen – Freiheit, Gleichheit, Demokratie und andere – und sie mit seiner Wahrheit aussöhnen. Aber Indien hat sich bei diesen Gedanken in der westlichen Form ganz und gar nicht wohlgefühlt, und so versucht es bereits in seinem Denken, ihnen eine indische Form zu geben, was unweigerlich eine Wendung zum Spirituellen bedeutet. Der erste Drang, englische Ideen und englische Kultur nachzuahmen, ist vor über; aber ein neuer und gefährlicherer hat ihn jüngst abgelöst, der Drang, kontinental-europäische Kultur im allgemeinen und die grobe und heftige Wendung des revolutionären Rußland insbesondere nachzuahmen. Auf der anderen Seite bemerkt man eine deutlich zunehmende Erneuerung der alten Hindu-Religion und die ungeheure Tragweite eines spirituellen Erwachens und seiner bedeutsamen Bewegungen. Diese zwiespältige Situation kann nur zu einem von zwei Resultaten führen. Entweder wird Indien bis zur Unkenntlichkeit rationalisiert und industrialisiert, und es wird dann nicht mehr Indien sein, oder aber es wird zum Führer in einer neuen Weltphase, durch sein Beispiel und seine kulturelle Infiltration die neuen Tendenzen des Westens fördern und die menschliche Rasse spiritualisieren. Das ist die eine radikale und brennende Frage, um die es geht: Wird das spirituelle Motiv, das Indien repräsentiert, sich in Europa durchsetzen und dort neue Formen schaffen, die dem Westen angemessen sind, oder wird europäischer Rationalismus und Kommerziellismus für immer dem indischen Kulturtypus ein Ende setzen?
Die Frage, die wir also stellen, sollten, lautet nicht: Ist Indien zivilisiert? Sie lautet: Soll jenes Motiv, das seine Zivilisation herangebildet hat, oder aber das alt europäische intellektuelle bzw. das neu-europäische materialistische Motiv die menschliche Kultur leiten? Soll die Harmonie des Geistes, des Mentals und des Körpers sich auf dem groben Gesetz unserer physischen Natur gründen, nur rationalisiert oder höchstens berührt von einem wirkungslosen spirituellen Schimmer, oder soll die dominierende Kraft des Geistes die Führung übernehmen und die geringeren Kräfte von Intellekt, Mental und Körper zu einer größeren Bemühung um höchste Harmonie, ein siegreiches, sich stets entwickelndes Gleichgewicht zwingen? Indien muß sich verteidigen, indem es seine kulturellen Formen neugestaltet, um mit größerer kraft, Tiefe und Vollkommenheit sein altes Ideal zum Ausdruck zu bringen. Sein Vorstoß muß die so befreiten Lichtwellen in prächtigen konzentrischen Kreisen über die ganz Welt ausbreiten, die es einst, in fernen
Zeitaltern, besaß oder zumindest erleuchtete. Der Eindruck eines Konflikts muß eine Weile geduldet, werden, solange der Angriff einer entgegen gerichteten Kultur fortdauert. Aber da dies tatsächlich mithelfen wird, zu all dem Besten hinzuführen, das das fortgeschrittene Denken des Okzidents hervorbringt, wird es im Beginn eines Einvernehmens auf höherer Ebene und einer Vorbereitung auf Einheit gipfeln.
Sobald die Frage nach der indischen Zivilisation jene größere Streitfrage eröffnet hat, verliert sie ihre enge Bedeutung und geht in einem sehr viel weiteren Problem unter: Liegt die Zukunft der Menschheit in einer Kultur, die sich allein auf Verstand und Wissenschaft gründet? Ist der Fortschritt des menschlichen Lebens die Bestrebung eines Mentals, eines kontinuierlichen Kollektivverstands – zusammengesetzt aus einer sich ständig wandelnden Summe vergänglicher Einzelner -,der aus der Dunkelheit des unbewußten materiellen Universums hervortrat und in ihm herumstolpert auf der Suche nach klarem Licht und einem sicheren Halt inmitten seiner Schwierigkeiten und Probleme? Und besteht Zivilisation in der Bemühung des Menschen, jenes Licht und jenen Halt in einem rationalisierten Wissen und einer rationalisierten Lebensweise zu finden? Eine systematische Erkenntnis der Mächte, Kräfte, Möglichkeiten der physischen Natur und der Psychologie des Menschen als eines mentalen und physischen Wesens ist dann die einzige wahre Wissenschaft. Eine systematische Anwendung jenes Wissens zum Zwecke progressive-gesellschaftlicher Effektivität und Wohlfahrt, was sein kurzes Dasein wirksamer, erträglicher, komfortabler, glücklicher, besser eingerichtet und reicher ausgestattet sein lässt mit den Freuden von Mental, Leben und Körper, ist dann die einzig wahre Lebenskunst. All unsere Philosophie, all unsere Religion – wenn wir davon ausgehen, daß Religion noch nicht überwunden und zurückgewiesen wurde – all unsere Wissenschaft, unser Denken, unsere Kunst, unsere gesellschaftliche Struktur, unsere Gesetze und Institutionen müssen sich auf diese Daseinskonzept gründen und diesem einen Ziel und Streben dienen. Das ist die Formel, die die europäische Zivilisation akzeptiert hat und um deren Verwirklichung in der einen oder anderen Form sie noch ringt. Es ist die Formel einer klug mechanisierten Zivilisation als Grundlage einer rationalen und utilitaristischen Kultur.
Ist nicht die Wahrheit unseres Wesens vielmehr diejenige einer in der Natur verkörperten Seele, die sich selbst zu erkennen, sich selbst zu finden, ihr Bewußtsein zu erweitern, zu einer größeren Daseinsweise zu gelangen sucht, sich im Geiste weiter zu entwickeln und in das volle Licht der Selbsterkenntnis und eine göttliche innere Vollkommenheit hineinzuwachsen strebt? Sind nicht Religion, Philosophie, Wissenschaft, Denken, Kunst. Gesellschaft, ja alles Leben eben Mittel nur zu diesem Wachstum, Werk zeuge des Geistes, die zu seinem Dienst zu gebrauchen sind, versehen mit diesem spirituellen Ziel als ihrer hauptsächlichen oder zumindest letztlichen Tätigkeit? Dies ist die Vorstellung von Leben und Sein – das Wissen von ihm, wie geltend gemacht wird -, für die Indien bis gestern stand und noch weiter zu stehen strebt mit all jenem, was am beständigsten und kraftvollsten in seiner Natur ist. Es ist die Formel einer spiritualisierten Zivilisation, die durch Vervollkommnung, aber auch durch Überschreiten von Mental, Leben und Körper zu einer hohen Seelen-Kultur strebt.
Ob die zukünftige Hoffnung der Rasse in einer rationalen und einer klug mechanisierten oder in einer spirituellen, intuitiven und religiösen Zivilisation und Kultur liegt,- das ist dann die entscheidende Frage. Wenn der rationalistische Kritiker bestreitet, daß Indien zivilisiert ist oder je zivilisiert war, wenn er die Upanischaden, den Vedanta, Buddhismus, Hinduismus,alte indische Kunst und Dichtung zu einer Masse von Unkultur erklärt, zur nichtigen Produktion eines beharrlich barbarischen Mentals, so meint er damit schlicht, daß Zivilisation synonym und identisch sei mit dem Kult und der Praxis des materialistischen Verstandes und daß alles, was unter oder über diesem Standard liegt, nicht diesen Namen verdient. Eine zu metaphysische Philosophie, eine zu religiöse Religion – wenn nicht überhaupt alle Philosophie und alle Religion – alles zu idealistische und alles mystische Denken, all mystische Kunst und jede Art von okkultem Wissen, alles, was verfeinert und in seinem Forschen hinausgeht über den begrenzten Horizont des Verstandes, der sich mit dem physischen Universum beschäftigt und ihm daher bizarre, übermäßig verfeinert, übertrieben, unbegreifbar erscheint, alles was auf den Sinn des Unendlichen antwortet, alles was eingenommen ist vom Gedanken des Ewigen – und eine Gesellschaft, die zu sehr von Gedanken beherrscht wird, die diesen Dingen entspringen, und nicht allein von intellektueller Klarheit und dem Streben nach materieller Entwicklung und Effizienz, seine nicht die Produkte von Zivilisation, sondern der Spross einer subtilen Barbarei. Aber diese These beweist offenbar zu viel: Der überwiegende Teil der großen Vergangenheit der Menschheit würde unter ihr Verdikt fallen. Selbst die alte griechische Kultur würde ihm nicht entrinnen. Ein großer Teil des Denkens und der Kunst der modernen europäischen Zivilisation selbst wäre in jenem Fall als zumindest halbbarbarisch zu verdammen. Ganz offenbar können wir nicht, ohne der Übertreibung oder dem Widersinn anheimzufallen, den Sinn des Wortes einengen und die Bedeutung des vergangenen Strebens der Rasse ihres Inhaltes berauben. Die indische Zivilisation in der Vergangenheit war und ist anzuerkennen als die Frucht einer großen Kultur, nicht weniger als die griechisch-römische, die christliche, die islamische oder die spätere Renaissance Zivilisation Europas.
Aber die Grundfrage bleibt offen; der Disput ist nur auf seine Kernfrage eingegrenzt. Ein gemäßigterer und scharfsinnigerer rationalistischer Kritiker würde den Wert der vergangenen Errungenschaften Indiens eingestehen. Er würde nicht Buddhismus und Vedanta und alle indische Kunst, Philosophie und gesellschaftliche Konzepte als barbarisch verdammen, aber er würde immer noch geltend machen, daß dort für die menschliche Rasse keine heilsame Zukunft liegt. Der wahre Fortschritt erfolge über den Weg des europäischen Modernismus, die mächtigen Werke der Naturwissenschaft und das große moderne Abenteuer der Menschheit, deren Bestrebungen ihr gutes Fundament nicht in Spekulation und Imagination haben, sondern in überprüfter und greifbarer wissenschaftlicher Wahrheit, ihren mühsam vermehrten Schätzen sicherer und fest erprobter wissenschaftlicher Organisation. Ein indisches Mental, das seinen Idealen treu ist, würde dagegen behaupten, Verstand und Wissenschaft und andere Hilfsmittel hätten zwar ihren Platz im menschlichen Streben, aber die wirkliche Wahrheit gehe über sie hinaus. Das Geheimnis unserer letzten Vollkommenheit ist tiefer in uns, in den Dingen und in der Natur zu entdecken; es ist zentral zu suchen in spiritueller Selbsterkenntnis und Vollkommenheit und in der Begründung des Lebens auf jener Selbsterkenntnis.
Wenn die Sache so formuliert wird, können wir sogleich sehen, daß die Kluft zwischen Ost und West, Indien und Europa jetzt sehr viel weniger tief und unüberbrückbar ist als vor dreißig oder vierzig Jahren. Der grundlegende Unterschied bleibt weiter bestehen; das Leben des Westens ist immer noch hauptsächlich beherrscht von dem rationalistischen Gedanken und einem Hauptinteresse am Materiellen. Aber auf den Gipfeln des Denkens und immer weiter nach unten hin vordringend durch Kunst, Dichtung, Musik und allgemeine Literatur erfolgt ein gewaltiger Wandel. Ein Ausgreifen nach tieferen Dingen, eine verstärkte Rückkehr zu Forschungsinteressen, die verbannt worden waren, ein Drang nach höherer, noch unverwirklichter Erfahrung, eine Zulassung von Gedanken und Vorstellungen, die der westlichen Mentalität lange fremd waren, können überall beobachtet werden. Diesen Prozess unterstützte, wie es von ihm unterstützt wurde, ein gewisses Eindringen indischen und östlichen Denkens und Einflusses. Hier und da finden wir sogar eine wachsende Anerkennung des hohen Wertes oder der überlegenen Größe des alten spirituellen Ideals.
Dieses Einsickern begann in einem sehr frühen Stadium des engen Kontaktes zwischen dem fernen Osten und Europa, deren unmittelbarer Anlass die englische Besetzung Indiens war. Aber zunächst war es ein geringer und oberflächlicher Kontakt, im besten Falle ein intellektueller Einfluß auf einige höher entwickelte Denker. Akademisches Interesse oder engagierte Hinwendung von Gelehrten und Denkern zu Vedanta, Sankhya, Buddhismus, die Bewunderung für die Tiefsinnigkeit und Weite des indischen philosophischen Idealismus, der nachhaltige Einfluß der Upanischaden und der Gita auf große Geister wie Schopenhauer und Emerson und einige geringere Denker, dies war erste enge Einlass für die Fluten. Der Eindruck war im besten Falle nicht sehr tief, und der kleine Effekt, den er gehabt haben mag, wurde unwirksam gemacht, eine Zeitlang sogar aufgehoben durch den großen Strom des wissenschaftlichen Materialismus, der die ganze Lebensanschauung des späten 19. Jahrhunderts überflutete.
Aber jetzt sind andere Bewegungen aufgetaucht und haben sich mit triumphalem Erfolg des Denkens und Lebens bemächtigt. Philosophie und Denken haben sich in einer scharfen Biegung vom rationalistischen Materialismus und seinen selbstsicheren Absolutismen entfernt. Auf der anderen Seite hat der indische Monismus, als erste Konsequenz der Suche nach einem geweiteten Denken und einer weiteren Schau des Universums in subtiler, aber kraftvoller Weise viele Menschen unter seinen Einfluß gebracht, wenn auch oft in seltsamen Verkleidungen. Auf der anderen Seite entstanden neue Philosophien, die zwar nicht unmittelbar spirituell, eher vitalistisch und pragmatisch sind, doch aufgrund ihrer größeren Subjektivität bereits indischen Denkweisen näherstehen. Die alten Grenzen wissenschaftlichen Interesses begannen einzubrechen. Verschiedene Formen psychischer Forschung, neue Ansätze in der Psychologie und sogar ein Interesse an Psychismus und Okkultismus sind zunehmend in Mode gekommen und setzen sich trotz der Bannsprüche orthodoxer Religion und Wissenschaft mehr und durch. Die Theosophie mit ihren umfassenden Kombinationen von alten und neuen Glaubenssätzen und ihrer Hinwendung zu alten spirituellen und psychischen Systemen hat überall Einfluß ausgeübt, der weit über den Kreis ihrer erklärten Anhänger hinausgeht. Nachdem sie lange Zeit mit Verleumdung und Spott bekämpft wurde, hat sie viel dazu beigetragen, den Glauben an Karma, Reinkarnation, andere Seinsebenen, an die Evolution der verkörperten Seele durch Intellekt und Psyche Geist zu verbreiten – Gedanken, die die ganze Lebenseinstellung verändern müssen, wenn sie einmal akzeptiert sind. Selbst die Naturwissenschaft gelangt ständig zu Schlußfolgerungen, die bloß auf der physischen Ebene und in ihrer Sprache Wahrheiten wiederholen, die das alte Indien bereits vom Standpunkt spiritueller Erkenntnis aus in der Sprache von Veda und Vedanta ausgesprochen hatte. Jeder dieser Ansätze führt direkt oder in seiner wesentlichen Bedeutung zu einer größeren Annäherung zwischen dem Geist von Ost und West und in jenem Ausmaß zu einer Wahrscheinlichkeit besseren Verstehens indischen Denkens und indischer Ideale.
In einigen Richtungen ist der Einstellungswandel bemerkenswert weit fort- geschritten und scheint standig zuzunehmen. Sir John Woodroffe zitiert einen christlichen Missionar, der mit Verwunderung das Ausmaß sieht, in dem der Hindu-Pantheismus begonnen hat, die religiösen Vorstellungen von Deutschland, Amerika, ja selbst England zu durchdringen”, und er betrachtet den Sammeleffekt als drohende Gefahr für die nächste Generation. Ein anderer Autor, den er zitiert, geht so weit, daß er alles höchste philosophische Denken Europas dem früheren Denken der Brahmanen zuschreibt und sogar erklärt, man würde alle modernen Lösungen zu in tellektuellen Problemen im Osten vorweggenommen finden. Ein angesehener französischer Psychologe sagte jüngst einem indischen Besucher, Indien habe bereits alle Grundlinien und Hauptwahrheiten, den weiten Grundplan einer echten Psychologie ausgearbeitet, und das einzige, was Europa nun tun können, sei, sie mit genauen Details und wissenschaftlichen Belegen zu füllen. Diese Äußerungen sind die extremen Kennzeichen eines wachsenden Wandels, dessen Trend unverkennbar ist. Auch ist diese Wendung nicht bloß in Philosophie und höherem Denken sichtbar. Die europäische Kunst hat sich in gewissen Richtungen weit von ihren alten Vertäuungen entfernt; sie entwickelt ein neues Auge und öffnet sich in ihrer eigenen Weise Motiven, die bislang nur im Osten geschätzt wurden. Östliche Kunst und Dekoration haben in letzter Zeit weitgehend Anerkennung gefunden, sie haben einen starken, wenngleich subtilen Ein- fluß ausgeübt. Die Dichtung hat seit einiger Zeit begonnen, unsicher eine neue Sprache zu sprechen – man beachte, daß der weltweite Ruhm tagores vor dreißig Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Oft findet man die Verse selbst gewöhnlicher Autoren voller Gedanken und Ausdrücke, die früher wenige Parallelen außerhalb indischer, buddhistischer und Sufi- Dichter gefunden haben könnten. Und es gibt einige erste Anzeichen eines ähnlichen Phänomens in der allgemeinen Literatur. Immer mehr finden die Sucher neuer Wahrheit ihre spirituelle Heimat in Indien und schulden ihm in großem Meße Anregung oder erkennen zumindest sein Licht an und setzen sich seinem Einfluß aus. Wenn diese Entwicklung weiter an Boden gewinnt – und die Möglichkeit rückläufiger Bewegung ist gering, so wird die spirituelle und intellektuelle Kluft zwischen Ost und West. wenn nicht aufgefüllt, so doch zumindest überbrückt werden, und die Verteidigung indischer Kultur und Ideale wird eine stärkere Position gewinnen.
Man könnte einwenden: Wenn es diese Gewissheit eines annähernden Verstehens gibt, welche Notwendigkeit besteht dann für eine aggressive Verteidigung der indischen Kultur, oder überhaupt für Verteidigung? Welche Notwendigkeit besteht dann für die Fortsetzung einer gesonderten indischen Zivilisation in der Zukunft? Ost und West werden sich von zwei entgegengesetzten Seiten treffen, ineinander aufgehen und eine gemeinsame Weltkultur im Leben einer vereinigten Menschheit begründen. Alle früheren oder bestehenden Formen, Systeme, Variationen werden in diesem neuen Amalgam verschmelzen und ihre Erfüllung finden. Aber das Problem ist nicht so einfach, nicht so glatt lösbar. Denn selbst wenn wir davon ausgehen könnten, daß in einer vereinten Weltkultur keine spirituelle Notwendigkeit und kein vitales Interesse für besonders ausgearbeitete Variationen bestehen, sind wir doch noch weit entfernt von einer solchen Einheit. Die subjektive und spirituelle Tendenz des fortgeschritteneren modernen Denkens ist noch auf eine Minderheit beschränkt und hat nur sehr oberflächlich auf die allgemeine Intelligenz Europas abgefärbt. Zudem ist es nur eine Bewegung des Denkens; die großen Lebensmotive der europäischen Zivilisation befinden sich noch am selben Punkt. Es existiert ein stärkerer Druck gewisser idealistischer Elemente bei der beabsichtigten Neugestaltung menschlicher Beziehungen, aber sie haben das Joch der unmittelbaren materialistischen Vergangenheit noch nicht abgeschüttelt, nicht einmal gelockert. Exakt in diesem kritischen Augenblick und unter diesen Bedingungen geschieht es, daß die gesamte Erdbevölkerung, Indien eingeschlossen, sich an einem Punkt befindet, wo sie in die Spannung und in die Wehen einer schnellen Umwandlung hineingezwungen wird. Es besteht die Gefahr, daß der Druck dominierender europäischer Gedanken und Motive, die Versuchungen der politischen Notwendigkeiten der Stunde und die Geschwindigkeit des rapiden unumgänglichen Wandels keine Zeit lassen werden für die Entwicklung gesunden Denkens und spiritueller Reflexion und daß sie das alte indische kulturelle und gesellschaftliche System bis zum Zerreißen überspannen werden und diese historische Zivilisation zerstören, bevor Indien die Zeit gehabt hat, seinen mentalen Standort und Ausblick wieder in Ordnung zu bringen und jene Formen zurückzuweisen, umzubilden oder zu ersetzen, die den Anforderungen der es umgebenden nationalen Notwendigkeiten nicht mehr gerecht werden, neue eigentümliche Kräfte und Formen zu bilden, und eine feste Grundlage zu finden für eine schnelle Evolution im Sinne seines eigenen Geistes und seiner eigenen Ideale. In diesem könnte ein rationalisiertes und verweltlichtes Indien, ein brauner Affe Europas, aus dem Chaos erstehen, ein Indien, das nur einige Elemente seines alten Denkens behält, um seine Gesamtexistenz zu modifizieren, aber nicht mehr zu formen und zu lenken. Wie andere Länder würde Indien dann die Form des westlichen Modernismus angenommen haben; das alte Indien wäre untergegangen.
Gewisse Leute würden in dieser Eventualität kein großes Unglück, vielmehr eine höchst wünschenswerte Wende und ein freudiges Ereignis sehen. Es würde ihrer Ansicht nach bedeuten, daß Indien seine spirituelle Sonderrolle aufgegeben und den dringend benötigten intellektuellen und moralischen Wandel durchgemacht hätte, der es zumindest berechtigen würde, der Gemeinschaft der modernen Nationen beizutreten und deren Achtung zu finden. Und ein zunehmend spirituelles und subjektives Element in die neue Völkergemeinschaft und deren wechselseitige Beziehungen eingebracht werden und vielleicht ein großer Teil von Indiens eigenem religiösen und philosophischen Denken von deren Kultur angeeignet würde, brauchte das Verschwinden seines alten Geistes und persönlichen Selbstausdrucks keinen absoluten Verlust zu bedeuten. Das alte Indien wäre dahingegangen wie das alte Griechenland und würde seinen Beitrag zu einem neuen und weiteren progressiven Leben der Menschheit hinterlassen. Aber die Aufnahme der griechisch-römischen Kultur durch die spätere europäische Welt war doch mit erheblichen Minderungen verbunden, obgleich viele ihrer Elemente noch in einer größeren und komplexeren Zivilisation überleben. Es kam zu einem erheblichen Verlust ihrer hohen und klaren intellektuellen Ordnung zu dem noch verhängnisvolleren Aussterben des alten Schönheitskultes, und selbst jetzt, nach so vielen Jahrhunderten, erfolgte keine wahre Neubelebung des verlorengegangenen Geistes. Ein noch größerer Verlust an den Schätzen der Welt würde aus dem Verschwinden einer ausgeprägt indischen Zivilisation resultieren, weil der Unterschied zwischen ihrem Standpunkt und dem des europäischen Modernismus tiefer, ihr Geist einzigartig und die Fülle und Vielfalt ihrer tausend Grundlinien innerer Erfahrung ein Erbe ist, das in seiner tiefen Wahrheit und dynamischen Ordnung noch immer allein Indien bewahren kann.
Die Tendenz des normalen westlichen Mentals geht dahin, von unten nach oben und von außen nach innen zu leben. Man schafft sich eine starke Grundlage in der vitalen und materiellen Natur, und höhere Kräfte werden nur angerufen und zugelassen, um das natürliche irdische Leben abzuwandeln und teilweise zu erhöhen. Das innere Leben wird geformt und regiert von den äußeren Kräften. Indiens ständiges Bestreben war es dagegen, eine Lebensgrundlage in der höheren spirituellen Wahrheit zu finden und vom inneren Geist her nach außen zu leben, den gegenwärtigen Modus von Mental, Leben und Körper zu überwinden, die äußeren Natur völlig unter Kontrolle zu bringen. Wie die alten vedischen Seher sagten: Ihre göttliche Grundlage war oben, selbst während sie unten standen, mögen ihre Strahlen tief in uns Wurzel fassen. Dieser Unterschied nun ist nicht eine unbedeutende Feinheit, sondern von großer und tiefgreifenden praktischer Konsequenz. Und wie Europa mit jeglichem spirituellen Einfluss umgehen würde, können wir an der Art sehen, in der es mit dem Christentum und seiner inneren Regel umging, die es nie wirklich als sein Lebensgesetz akzeptierte: Es wurde zugelassen, aber nur als ein idealer und emotionaler Einfluß, und nur dafür gebraucht, um die vitale Aktivität des Teutonen und die intellektuelle Klarheit und sinnliche Feinheit der Romanen zu mäßigen und ein wenig spirituell zu färben. Jede neue spirituelle Entwicklung, die Europa akzeptierte, würde in eben derselben Weise aufgenommen und für einen ähnlich begrenzten und oberflächlichen Zweck gebraucht werden, falls es nicht eine standhafte lebendige Kultur in dieser Welt gäbe, um dieses geringere Ideal herauszufordern und auf dem wahren Leben des Geistes zu beharren. Es mag wohl stimmen, daß beide Tendenzen, die mentale, vitale und physsche Konzentration Europas und der spirituelle und psychische Impuls Indiens, zur Vollständigkeit des menschlichen Lebens benötigt werden. Aber wenn das spirituelle Ideal den endgültigen Weg zu einer triumphalen Harmonie manifestierten Lebens weist, dann ist es für Indien von entscheidender Bedeutung, daß es die Wahrheit nicht aus dem Griff verliert, nicht das Höchste aufgibt, das es kennt, uns es nicht verschachert für ein vielleicht mehr unmittelbar praktikables, aber doch niederes Ideal, das seiner wahren und bleibenden Art fremd ist. Es ist ebenso wichtig für die Menschheit, daß eine große Kollektivanstrengung zur Verwirklichung dieses höchsten Ideals – ganz gleich, wie unvollkommen sie auch gewesen sein mag – nicht zum Stillstand kommt, sondern fortdauert. Sie kann immer ihre Kraft zurückgewinnen und ihre Ausdrucksgebung erweitern; denn der Geist ist nicht an zeitliche Formen gebunden, sondern ewig neu, unsterblich und unendlich. Eine neue Schöpfung des alten indischen svardharma, nicht eine Umwandlung in ein Gesetz der westlichen Natur, ist unser bester Weg, um die Summe menschlichen Fortschritts zu fördern und zu vermehren. So entsteht die Notwendigkeit einer Verteidigung, und es sollte eine starke, ja aggressive Verteidigung sein; denn nur eine aggressive Verteidigung kann unter den Bedingungen des modernen Kampfes wirksam sein. Aber hier sehen wir uns einer entgegengesetzten geistigen Einstellung und ihrem starren, hemmenden Temperament konfrontiert. Denn es gibt jetzt eine ganze Reihe von Indern, die für eine hartnäckig statische Verteidigung sind, und alle Aggressivität, die sie in diese hineinlegen, besteht in einem recht vulgären und gedankenlosen Kultur-Chauvinismus, der die Ansicht vertritt, daß alles, war wir haben, gut für uns sei, weil es indisch ist, oder sogar, daß alles, was in Indiens ist, am besten sei, weil es die Schöpfung der Rishis ist. Als ob all die späteren schwerfälligen und chaotischen Entwicklungen von jenen viel missbrauchten, oft fehlinterpretierten und stark gefälschten Gründern unserer Kultur eingeleitet worden wären! Aber es ist. fraglich, ob eine statische Verteidigung irgendeinen effektiven Wert hat. Ich meine, sie hat keinen Wert, weil sie sich nicht mit der Wahrheit der Dinge im Einklang befindet und zum Fehlschlag verurteilt ist. Sie läuft auf den Versuch hinaus, stur still zu sitzen, während die Shakti der Welt auf ihrem Weg voran eilt – nicht nur die Shakti der Welt, sondern auch die Shakti in Indien. Es handelt sich um die Entschlossenheit, nur von unserem vergangenen kulturellen Kapital zu leben, es bis zum letzten Heller zu strecken, während es in unseren verschwenderischen und inkompetenten Händen ohnehin schon genug geschrumpft ist; aber von unserem kapital leben, ohne es für neuen frischen Gewinn zu investieren, hieße, in Armut und Bankrott zu enden. Die Vergangenheit ist zu nutzen und auszugeben als bewegliches Umlauf-Kapital für einen größeren Profit, für Neuerwerb und Entwicklung der Zukunft. Aber um zu gewinnen, müssen wir freigeben, müssen wir hergeben, um uns vollständiger zu entwickeln und reichhaltiger zu leben, - das ist das universale Daseinsgesetz. Andernfalls wird das Leben in uns stagnieren und an seiner Starrheit Zugrunde gehen. In solcher Weise vor Erweiterung und Wandel zurückzuschrecken, ist ebenfalls ein falsches Bekenntnis aus Unvermögen. Es hieße zu glauben, daß Indiens schöpferische Potenz in Religion und Philosophie mit Shankara, Ramanuja, Mandhwa und Chaitanya und im gesellschaftlichen Aufbau mit Raghunandan und Vidyaranya zu Ende ging. Es hieße, in der Kunst und Dichtung bei einer unschöpferischen Leere oder einer sinnlosen und lebenslosen Wiederholung schöner, aber abgegriffener Formen und Motive stehen zu bleiben. Es hieße, an gesellschaftlichen Formen festzuhalten, die zerbröckeln und trotz unserer Anstrengungen weiter zerbröckeln werden und dem Risiko ausgesetzt sind, bei ihrem Zusammenbruch zermalmt zu werden.
Der Einwand gegen jeden großen Wandel –denn ein großer und mutiger Wandel ist erforderlich, Kleinkrämerei wird unserem Zweck nicht dienen – kann nur dann plausibel gemacht werden, wenn er auf der These beruht, daß die Formen einer Kultur der rechte Rhythmus ihres Geistes seien und daß wir, wenn wir den Rhythmus unterbrechen, dabei den Geist vertreiben und die Harmonie für immer auflösen könnten. Gewiss, aber obgleich der Geist ewig in seiner Essenz ist und unwandelbar in den Grundprinzipien seiner Harmonie, ist der tatsächliche Rhythmus seiner Selbstausdruckgebung in der Form immer wandelbar. Unwandelbar in seinem Wesen und in den Kräften seines Wesens, aber reichlich wandelbar im Leben, - dies ist exakt die Natur des manifestierten Daseins des Geistes. Und wir müssen auch in Betracht ziehen, ob der tatsächliche Rhythmus des Augenblicks noch eine Harmonie ist, ob er nicht in den Händen eines mäßigen und unwissenden Orchesters zu einem Missklang geworden ist und den alten Geist nicht mehr zutreffend oder hinlänglich ausdrückt. Mängel in der Form anerkennen heißt nicht, den inhärenten Geist zu leugnen; es ist vielmehr die Grundbedingung, um weiter voranzuschreiten zu einer größeren zukünftigen Weite, einer vollkommeneren Verwirklichung, einem glücklicheren Ausströmen der Wahrheit, die wir in uns haben. Ob wir tatsächlich eine größere Ausdrucksgebung finden werden, als sie uns die Vergangenheit gab, hängt von uns selbst ab, von unserer Fähigkeit, auf die ewige Kraft und Weisheit und die Erleuchtung der Shakti in uns anzusprechen, und von unserem Geschick in Werken, jenem Geschick, das durch Einheit mit dem ewigen Geist kommt, den wir im Maße unseres Lichts auszudrücken versuchen: yogah karmasu kausalam.
Dies ist vom Standpunkt der indischen Kultur aus gesagt, und das muß für uns stets der erste Gesichtspunkt und wesentliche Standpunkt sein. Aber es gibt auch den Standpunkt vom Druck des Zeitgeistes auf uns. Denn auch dies ist das Wirken der universalen Shakti und kann nicht ignoriert, auf Distanz gehalten oder am Eintritt gehindert werden. Auch hier drängt sich der Grundsatz neuer Schöpfung als der wahre und einzig wirksame Weg auf. Selbst wenn es wünschenswert wäre, still und steif zu stehen in unseren wohl geschützten Toren, so ist es nicht mehr möglich. Wir können uns nicht länger von der übrigen Menschheit gesondert halten, isoliert wie eine einsame Insel im weiten Ozean, indem wir weder selbst voranschreiten noch andere hereinlassen, - sofern wir überhaupt je einen solchen Status hatten. Zum Guten oder zum Bösen ist die Welt mit uns; die Flut moderner Gedanken und Kräfte strömt herein und wird keine Leugnung erlauben. Es gibt zwei Wege, ihnen entgegenzutreten: entweder einen hilflosen und hoffnungslosen Widerstand zu leisten oder sie aufzugreifen und in den Griff zu bringen. Wenn wir nur einen trägen oder hartnäcking passiven Widerstand bieten, werden sie uns dennoch heimsuchen, unsere Verteidigung dort nieder brechen, wo sie am schwächsten ist, sie entkräften, wo sie massiver ist, und wo nichts von beidem getan werden kann, sich unerkannt und kaum durchschaut von unten durch Gänge und Tunnel einschleichen. Indem sie unangepaßt eintreten, werden sie als zersetzende Kräfte wirken, und es wird nur teilweise durch äußeren Angriff, viel mehr noch durch innere Explosion geschehen, daß diese alte indische Zivilisation in Stücke zerbricht. Unheilverkündende Funken beginnen bereits aufzusprühen, und keiner weiß, wie man sie löscht. Und selbst wenn wir sie löschen könnten, erginge es uns darum nicht besser, denn wir müßten noch mit der Quelle fertig werden, von der sie herrühren. Selbst die hartnäckigsten Verteidiger der Gegenwart im Namen der Vergangenheit zeigen in all ihren Worten, wie sehr sie von neuen Denkweisen berührt wurden. Viele, wenn nicht die meisten, rufen leidenschaftlich, rufen unausweichlich nach Neuerungen in gewissen Bereichen, nach Wandlungen, die europäisch in Geist und Methode sind und die, wenn sie einmal ohne radikale Assimilation und Indisierung zugelassen sind, am Ende die ganze Sozialstruktur zerbrechen werden, die sie zu verteidigen meinen. Dies entspringt einer gedanklichen Verwirrung und einem Unvermögen der Kraft. Weil wir nicht in der Lage sind, in gewissen Bereichen zu denken und zu schaffen, sind wir gezwungen, ohne Assimilation oder mit einem nur illusorischen Vorwand der Assimilation zu borgen. Weil wir nicht den vollständigen Sinn dessen, was wir tun, von einer hohen inneren, beherrschenden Warte überschauen können, sind wir damit beschäftigt, unvereinbare Dinge ohne jede heilsame Aussöhnung zusammenzubringen. Es ist wahrscheinlich, daß unsere Bemühungen in einem langsamen Verbrennungsvorgang und schneller Explosion enden werden.
Aggressive Verteidigung impliziert eine neue Schöpfung von dieser inneren und beherrschenden Warte aus, und während sie erfordert, daß jenes, was wir haben, zu einer ausdrucksvolleren Formkraft gebracht wird, muß sie auch eine wirksame Assimilation dessen zulassen, was für unser neues Leben nützlich ist und mit unserem Geist in Harmonie gebracht werden kann. Schlacht, Schock und Kampf sind für sich selbst nicht sinnlose Zerstörung; sie sind ein gewalttätiger Deckmantel für die großen Austausche der Zeit. Selbst der erfolgreichste Sieger empfängt viel vom Besiegten, und wenn er sich dieses manchmal auch aneignet, so nimmt es ihn ebenso oft auch gefangen. Der westliche Angriff ist nicht darauf beschränkt, die Formen östlicher Kultur niederzubrechen; zur selben Zeit erfolgt eine um fassende, feine und stille Aneignung von vielem, was im Osten von Wert ist, für die Bereicherung okzidentaler Kultur. Die Herrlichkeiten unserer Vergangenheit herauszubringen und so viel von ihren Schätzen über Europa und Amerika zu verstreuen, wie sie empfangen werden, wird uns daher nicht helfen. Solche Freigebigkeit wird unsere kulturellen Angreifer bereichern und stärken, aber für uns wird es nur den Zweck erfüllen, ein Selbsvertrauen heranzubilden, das nutzlos und sogar irreführend sein wird, wenn es nicht in eine Kraft und einen Willen zu größerer Schöpfung gewandelt wird. Für uns ist es geboten, dem Angriff mit neuen und kraftvolleren Formationen zu begegnen, die sie nicht nur zurückwerfen werden, sondern den Krieg sogar in das Land des Angreifers hineintragen, wo dies möglich ist und der Rasse hilft. Gleichzeitig müssen wir mit einer starken schöpferischen Assimilation aufnehmen, was unseren Erfordernissen entspricht und dem indischen Geist gerecht wird. In gewissen Richtungen, bislang noch allzu wenigen, haben wir diese beiden Bewegungen begonnen. Bei anderen haben wir nur eine unkluge Mischung geschaffen, oder wir übernahmen und übernehmen hastig grobe und unverdaute Anleihen. Nachahmung, ein primitives und unsystematisches Borgen von den Instrumenten und Methoden des Angreifers mag zeitweilig nützlich sein, aber für sich genommen ist es nur eine andere Art und Weise, der Eroberung nachzugeben. Starre Aneignung genügt nicht; erfolgreiche Angleichung an den indischen Geist ist der erforderliche Schritt. Das Problem ist eines von großer unmittelbarer Schwierigkeit und gewaltigen Ausmaßen, und wir haben uns noch nicht mit Weisheit und Weitblick daran gemacht. Umso dringender ist es notwendig, die Situation voll zu erfassen und ihr mit originellem Denken und einer bewussten Aktion zu begegnen, die klug und kraftvoll in der Schau und sicher im Ablauf ist. Eine meisterhafte und hilfreiche Assimilation neuen Materials in einem ewigen Körper war in der Vergangenheit stets die besondere Kraft des indischen Genius.
Aber es gibt noch einen anderen Gesichtspunkt, unter dem die uns gestellte Herausforderung nicht länger eine Frage ist, die grob und provozierend als Konflikt von Kulturen formuliert ist. Stattdessen stellt sie sich als ein Problem von tiefer Bedeutung; sie wird zu einer zum Denken verleiten-den Anregung, die nicht nur unsere eigene, sondern alle noch bestehenden Zivilisationen betrifft.
Zur kulturellen Frage können wir vom Standpunkt der Vergangenheit und der Bewertung verschiedener Kulturen als erlangten Beiträgen zum Wachstum der menschlichen Rasse aus antworten, daß die indische Zivilisation From und Ausdruck einer Kultur war, die ebenso bedeutend ist wie jede andere der historischen Zivilisationen der Menschheit, bedeutend in der Religion, bedeutend in der Philosophie, in der Naturwissenschaft, bedeutend in vielen Denkdisziplinen, in der Literatur, Kunst und Dichtung, bedeutend in der Organisation von Gesellschaft und Politik, bedeutend in Hand- werk, Handel und Gewerbe. Es gab dunkle Flecken, eindeutige Unvollkommenheiten, schwere Mängel; welche Zivilisation war schon vollkommen, welche hatte nicht ihre erheblichen Makel und tiefen Abgründe? Es gab beträchtliche Lücken, viele Sackgassen, viel unkultivierten oder schlecht kultivierten Boden; welche Zivilisation war schon frei von Leerräumen, negativen Aspekten? Aber unsere alte Zivilisation kann die strengsten Vergleiche mit dem Altertum oder dem Mittelalter aushalten. Höherreichend, subtiler, vielseitiger, wissbegieriger und tiefgründiger als die griechische, edler und menschlicher als die römische, ausgedehnter und spiritueller als die alte ägyptische, umfassender und ursprünglicher als jede andere asiatische Zivilisation, intellektueller als die europäische vor dem achtzehnten Jahrhundert, im Besitze all dessen, was jene hatten, und mehr als das, war sie die mächtigste, souveränste, stimulierende und einflussreichste von allen vergangenen menschlichen Kulturen.
Und selbst wenn wir vom Standpunkt der Gegenwart und dem Fruchtbaren Wirken des progressiven Zeitgeistes aus urteilen, können wir sagen, daß selbst hier trotz unseres Niedergangs nicht alles auf der Sollseite ist. Viele Formen unserer Zivilisation sind untauglich geworden und abgenutzt, andere benötigen radikalen Wandel und Erneuerung. Aber das kann ebenso gut für die europäische Kultur gesagt werden; bei all ihrer jüngst erlangten Fortschrittlichkeit und Gewohnheit schnellerer Selbstanpassung sind doch große Teile von ihr bereits verrottet und überaltert. Trotz aller Mängel und trotz des Niedergangs haben der Geist der indischen Kultur, ihre zentralen Gedanken, ihre besten Ideale noch immer eine Botschaft für die Menschheit und nicht für Indien allein. Und wir in Indien sind der Ansicht, daß sie in der Lage sind, aus sich selbst durch Kontakt mit neuem Erfordernis und neuem Gedanken ebenso gute und bessere Lösungen der anstehenden Probleme zu entwickeln als jene, die uns aus zweiter Hand von westlichen Quellen geboten werden. Aber außer den Vergleichen der Vergangenheit und den Erfordernissen der Gegenwart gibt es auch einen Gesichtspunkt der idealen Zukunft. Es gibt die weiteren Ziele, auf die sich die Menschheit hinbewegt. Die Gegenwart ist nur ein unreifes Streben nach ihnen, die unmittelbare Zukunft, die wir jetzt hoffnungsvoll sehen und in der Form herbeizuführen suchen, ist nur ihr unfertiges vorbereitendes Stadium. Es gibt einen noch unverwirklichten Standard der Ideen, die für das heutige Bewusstsein utopische Fiktionen sind, für eine weiter entwickelte Menschheit jedoch zu Gemeinplätzen ihrer täglichen Umgebung werden können, vertraute Dinge der Gegenwart, die sie überwinden müssen. Welchen Stand hat die indische Zivilisation hinsichtlich dieser noch unverwirklichten Zukunft der Menschheit? Sind ihre Hauptkonzepte und dominierenden Kräfte Leitlichter oder helfende Kräfte zu dieser Zukunft hin oder finden sie in sich selbst ein Ende, ohne daß sie einen Ausblick auf die evolutionären Möglichkeiten der kommenden Erdzeitalter eröffnen?
Schon der bloße Gedanke des Fortschritts ist für viele eine Illusion; denn sie glauben, daß die menschliche Rasse sich ständig in einem Kreis bewegt. Oder es ist gar ihre Ansicht, daß Größe mehr denn irgendwo in der Vergangenheit zu finden sei und daß unsere Bewegungslinie eine absteigende Kurve der Entartung ist, ein Abgleiten nach unten. Aber dies ist eine Illusion, die geschaffen wird, wenn wir zu sehr auf die Höhepunkte der Vergangenheit schauen und deren Schatten vergessen, oder wenn wir uns zu sehr auf die dunklen Räume der Gegenwart konzentrieren und ihre Lichtkräfte und ihre aussichtsvolleren Zukunftsaspekte vergessen. Sie wird ferner geschaffen durch fälschliche Ableitung vom Phänomen ungleichmäßigen Forstschreitens. Denn die Natur vollzieht ihre Evolution im Rhythmus von Voranschreiten und Zurückgleiten, von Tag und Nacht, Wachen und Schlaf; es erfolgt ein zeitweiliges Vorantreiben gewisser Resultate auf Kosten anderer, die nicht minder für Vollkommenheit benötigt werden, und für das oberflächliche Auge mag selbst in unserem Voranschreiten ein Zurückfallen sein. Gewiß bewegt sich Fortschritt nicht sicher in gerader Linie voran wie ein Mensch, der sich des vertrauten Weges sicher ist, oder wie eine Armee, die ein unverteidigtes Terrain oder kartographisch gut erfasste, unbesetzte Räume einnimmt. Menschlicher Fortschritt ist weitgehend ein Abenteuer durch das Unbekannte, ein        
Unbekanntes voller Überraschungen und verblüffender Hindernisse; er stolpert oft, verfehlt seinen Weg an vielen Punkten, weicht hier, um dort zu gewinnen, verfolgt seine Schritte häufig zurück, um weiter voranzukommen. Die Gegenwart schneidet nicht immer gut ab im Vergleich mit der Vergangenheit; selbst wenn sie in der Masse weiter vorangeschritten ist, kann sie doch in gewissen Richtungen, die für unser inneres oder äußeres Wohlergehen wichtig sind, geringerwertig sein. Aber schließlich und endlich bewegt sich die Erde doch vorwärts, epursimuove. Selbst im Versagen erfolgt eine Vorbereitung auf Erfolg: Unsere Nächte bergen in sich das Geheimnis einer größeren Morgendämmerung. Dies ist eine häufige Erfahrung in unserem individuellen Fortschritt, aber auch die Kollektivität der Menschen bewegt sich in sehr ähnlicher Weise. Die Frage ist, wohin gehen wir, und welches sind die wahren Routen und Häfen unserer Reise?
Die westliche Zivilisation ist stolz auf ihren erfolgreichen Modernismus. Aber es gibt viele Dinge, die sie in ihrem eifrigen Streben nach Gewinn verloren hat, und vieles, wonach die Menschen alter Zeiten strebten, was sie aber nicht einmal zu vollbringen suchte. Auch gibt es vieles, was sie ganz bewußt – ungeduldig oder unter Mißachtung ihres eigenen großen Verlustes, der Schädigung ihrer Lebens, der Unvollkommenheit ihrer eigenen Kultur – abgeworfen hat. Ein alter Grieche der Zeit von Perikles oder der Philosophen, der plötzlich in dieses Jahrhundert versetzt würde, würde staunen über die gewaltigen Errungenschaften des Intellektes und die Expansion des Bewusstseins, die moderne Vielseitigkeit des Verstandes und die unerschöpfliche Gewohnheit des Forschens, die Kraft endloser Verallgemeinerung und präzisen Details. Er würde ohne Vorbehalt die wunderbare Entwicklung der Wissenschaft und ihre gigantischen Entdeckungen bewundern, die reiche Kraft, Fülle und Exaktheit ihrer Instrumente, die wundervollbringende Kraft ihres erfinderischen Genies. Er wäre mehr überwältigt und verblüfft denn überrascht und eingenommen vom mächtigen Pulsschlag des modernen Lebens. Aber gleichzeitig würde er abgestoßen werden von der schamlosen Masse seiner Hässlichkeit und Rohheit, seines zügellosen äußeren Utilitarismus, seines vitalistischen Trubels und der morbiden Übertreibung und Ungesundheit vieler seiner Entwicklungen. Er würde in him viel schlecht verhüllte Belege für das nicht verhinderte Überleben des triumphierenden Barbaren sehen. Wenn er seine Intellektualität und die exakte Anwendung von Denken und wissenschaftlichem Verstand auf die Lebensmaschinerie anerkannte, würde er in ihm doch seinen eigenen späteren Versuch klarer und edler Anwendung der idealen Vernunft auf das Innere Leben von Geist und Seele vermissen. Er würde herausfinden, daß in dieser Zivilisation Schönheit zu einem Exoten geworden ist und das leuchtende ideale Bewusstsein in einigen Bereichen zu einem ist und das leuchtende ideale Bewusstsein in einigen Bereichen zu einem entwürdigten und ausgebeuteten Sklaven, in anderen zu einem vernachlässigten Fremden.
Was die großen spirituellen Sucher der Vergangenheit betrifft, so würden sie in all dieser gewaltigen Tätigkeit des Intellekts und des Lebens eine schmerzhafte Leere empfinden. Ein Gefühl seiner Illusion und Unwirklichkeit würde sie bei jedem Schritt heimsuchen, weil das, was am größten im Menschen ist und ihn über sich selbst hinaushebt, vernachlässigt worden war. Die Entdeckung der Gesetze der physischen Natur würde in ihren Augen nicht den relativen Rückgang – lange Zeit war es das völlige Aufhören – eines größeren Suchens und Findens aufwiegen, die Entdeckung der Freiheit des Geistes.
Aber eine unvoreingenommene Schau wird dieses Zeitalter der Zivilisation eher als ein evolutionäres Stadium betrachten wollen, als eine unvollkommene, aber doch wichtige Wende des menschlichen Fortschritts. Man kann dann erkennen, daß große Fortschritte erzielt wurden, die von äußerstem Wert für letztliche Vollkommenheit sind, selbst wenn sie für einen hohen Preis erkauft wurden. Wir haben nicht nur eine größere Verallgemeinerung des Wissens und die gründlichere Anwendung intellektueller Kraft und Tätigkeit in vielen Bereichen. Wir haben nicht nur den Fortschritt der Naturwissenschaft und ihre Nutzung für die Eroberung unserer Umwelt, einen ungeheuren Apparat von Mitteln, weitreichende Nutzungen, endlose kleine Annehmlichkeiten, eine unwiderstehliche Maschinerie, eine unermüdliche Ausbeutung von Kräften. Wir haben auch eine gewisse Entwicklung mächtiger, wenn nicht hochgesteckter Ideale, und es wird der Versuch unternommen – wie äußerlich und folglich unvollkommen er auch sein mag – sie einwirken zu lassen auf die Funktion der menschlichen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Viel ist reduziert oder verloren worden, aber es kann am Ende zurückgewonnen werden, wenn auch nicht mit Leichtigkeit. Wenn das innere Leben des Menschen einmal seinen wahren Rhythmus wiedergewonnen hat, wird es erkennen, daß es an Materialien gewonnen hat, an Fähigkeit zu Plastizität, an einer neuen Art Tiefe und Weite. Und wir werden die heilsame Gewohnheit angenommen haben, in vielerlei Hinsicht gründlich zu sein und aufrichtig bemüht, das äußere Gemeinschaftsleben als angemessenes Ebenbild unserer höchsten Ideale zu gestalten. Temporäre Abstriche werden nicht zählen angesichts der größeren inneren Ausweitung, die wahrscheinlich auf dieses Zeitalter äußerer Unruhe und nach außen gerichteten Bemühens folgen wird.
Wenn andererseits ein alter Inder der Zeit der Upanischaden, der buddhistischen Zeit oder des späteren klassischen Zeitalters in das moderne Indien verpflanzt würde und jenen größeren Teil seines Lebens bemerkte, der dem Zeitalter des Verfalls angehört, würde er eine viel mehr deprimierende Empfindung haben, das Gefühl eines nationalen, eines kulturellen Debakels, eines Falls von den höchsten Gipfeln auf entmutigend niedrige Ebenen. Es könnte gut sein, daß er sich dann fragt, was diese degenerierte Nachwelt denn aus der mächtigen Zivilisation der Vergangenheit gemacht habe. Er würde sich fragen, wie sie angesichts all dessen, das sie inspirieren, erheben, anspornen kann, mehr zu leisten und sich selbst zu übertreffen, in diese Kraftlosigkeit und Trägheit fallen konnte und wie es dazu kam, daß sie die hohen Motive indischer Kultur, statt mehr zu vertiefen und auszuweiten, sich mit hässlichen Zuwüchsen überladen ließ, um dann dadurch zu rosten, zu verrotten, beinahe zugrunde zugehen. Er würde sehen, wie sein Volk an Formen, Schalen und Fetzen der Vergangenheit festhält, aber neun Zehntel ihrer edleren Werte nicht begreift. Er würde das spirituelle Licht und die Energie der heroischen Zeitalter der Upanischaden und der philosophischen Systeme mit der späteren Trägheit oder kleinen und zerstückelten, fragmentarisch ableitenden Tätigkeit unseres philosophischen Denkens vergleichen. Im Gefolge der intellektuellen Wissbegierde, der wissenschaftlichen Entwicklung, der schöpferischen literarischen und künstlerischen Größe, der noblen Fruchtbarkeit des klassischen Zeitalters wäre er erstaunt über das Ausmaß einer späteren Dekadenz, ihre mentale Armut, Unbeweglichkeit, statische Wiederholung, die vergleichsweise Schwäche schöpferischer Intuition, die lange Sterilität der Kunst, das Absterben der Wissenschaft. Er würde einen steilen Abstieg zu Unwissenheit beklagen, ein Versagen des alten kraftvollen Willens und der tapasya, fast eine Impotenz des Willens. Anstelle der einfacheren und mehr spirituell vernünftigen Ordnung alter Zeiten würde er eine verwirrend chaotische, zerrüttete Organisation der Dinge ohne Mitte und ohne jedes weittragende, harmonisierende Konzept finden. Er fände keine wahre Gesellschaftsordnung sondern eine halb eingedämmte, halb vordringende Fäulnis. Anstelle der großen flexiblen Zivilisation, die kraftvoll assimilierte und in der Lage war, zehnfach zurückzuzahlen für das, was sie empfing, träfe er auf eine hilflose Haltung, mit der man passiv oder nur mit einigen wenigen wirkungslosen galvanischen Reaktionen die Kräfte der Außenwelt und den Streßwidriger Umstände ertrug. Er würde erkennen, daß sogar zeitweilig ein so beträchtlicher Verlust des Glaubens und Selbstvertrauens eintrat, daß die Intellektuellen der Nation in Versuchung gerieten, den alten Geist und die alten Ideale zugunsten einer fremden und importieren Kultur zu verbannen. Er würde gewiß den Anfang eines Wandels bemerken, aber könnte vielleicht Zweifel hegen, wie tief er geht und ob er stark genug ist, um zu retten, um die ganze Nation aus ihrer geliebten Starre und Schwäche zu reißen, erleuchtet genug, um eine neue, robuste schöpferische Tätigkeit auf die Schaffung neuer bedeutsamer Formen für den historischen Geist zu lenken.
Auch hier weist besseres Verstehen mehr auf Zuversicht als auf jene schiere Verzagtheit, die ein zu hastiger, oberflächlicher Blick nahelegt. Dieses letzte Zeitalter indischer Geschichte ist ein Beispiel der ständigen lokalen Folge der Nach selbst auf den längsten und hellsten Tag in der Evolution der menschlichen Rasse. Aber es war eine Nacht, die zunächst voller leuchtender Konstellationen war, und selbst in der finstersten und und schlimmsten Nacht war es die Dunkelheit von Kalidasas viceya-taraka prabhata-kalpeva sarvari, Nacht, die auf die Morgendämmerung vorbereitet, mit einigen gerade erkennbaren Sternen. Selbst während des Abstiegs ging nicht alles verloren. Es fanden Entwicklungen statt, die benötigt wurden; es gab spiri-tuelle und andere Fortschritte von größter Bedeutung für die Zukunft. Und in der schlimmsten Periode des Niedergangs und Versagens war der Geist in Indien nicht tot, sondern nur erstarrt, verhüllt und gehemmt. Indem er jetzt wieder auflebt zu energischer Selbstbefreiung infolge des Drucks ständig aufrüttelnder Erschütterungen, erkennt er, daß sein Schlaf Vorbereitung war auf latent vorhandene Möglichkeiten hinter dem Schleier jenes Schlummers. Wenngleich das hohe spiritualisierts Mental und die gewaltige Kraft spirituellen Willens, tapasya, die das alte Indien charakterisierten, weniger sichtbar waren, gab es erneut Fortschritt in spiritueller Emotion und Sensitivität gegenüber dem spirituellen Impuls auf den niederen Bewusstseinsebenen, an dem es vorher mangelte. Architektur, Literatur, Malerei, Skulptur verloren ihren alten Glanz, ihre Kraft und Erhabenheit, aber sie riefen andere Kräfte und Motive voll Feingefühl. Lebendigkeit und Anmut hervor. Es erfolgte ein Abstieg von den Höhen zu den niederen Ebenen, jedoch ein Abstieg, der auf dem Weg Schätze ansammeln ließ und für die Fülle spiritueller Entdeckung und Erfahrung benötigt wurde. Der Niedergang unserer vergangenen Kultur kann sogar als ein notwendiges Dahinschwinden und Absterben alter Formen betrachtet werden, um nicht nur einer neuen, sondern, wenn wir so wollen, größeren und vollkommeneren Schöpfung Platz zu machen.
Denn schließlich und endlich ist es der Wille im Wesen, der den Umständen ihren Wert gibt, und oft einen unerwarteten Wert; die Färbung der scheinbaren Wirklichkeit ist ein irreführender Indikator. Wenn der Wille in einer Rasse oder Zivilisation auf Tod gerichtet ist, wenn er festhält an der Mattig-keit der Dekadenz und dem Laisser-faire des zum Sterben Verurteilten, oder selbst in kraftvollem Zustand blind auf Neigungen beharrt, die zur Zerstörung führen, oder wenn er nur die Kräfte toter Zeit schätzt und die Kräfte der Zukunft von sich weist, wenn er Leben, das war dem Leben, das sein wird, vorzieht. So wird ihn nichts, werden ihn nicht einmal üppige Kraft, Mittel und Klugheit, nicht einmal viele Aufrufe zum Leben und ständig gebotene Gelegenheiten vor dem unvermeidlichen Zerfall und Zusammenbruch bewahren. Aber wenn ihn ein starker Glaube an sich selbst und ein robuster Wille zum Leben erfüllt, wenn er gegenüber den Dingen, die kommen werden, offen ist, willig, sich der Zukunft und der Dinge, die sie bietet, zu bemächtigen, und stark, sie gefügig zu machen, wo sie widrig zu sein scheint, so kann er aus Widerstand und Niederlage die unbezwingbare Kraft zum Sieg ziehen und sich aus, scheinbarer Hilflosigkeit und Dekadenz in einer mächtigen Flamme der Erneuerung zum Licht eines herrlicheren Lebens erheben. Zu einem solchen Aufstieg schickt sich die indische Zivilisation nun wieder an, wie sie es stets tat in der ewigen Kraft ihres Geistes.
Die Größe der Ideale der Vergangenheit ist eine Verheißung größerer Ideale für die Zukunft. Eine ständige Ausweitung dessen, was hinter vergangener Bemühung und Begabung stand, ist die eine beständige Rechtfertigung einer lebendigen Kultur. Aber daraus folgt, daß Zivilisation und Barbarei Worte von recht relativer Bedeutung sind. Denn vom Standpunkt der evolutionären Zukunft aus waren die europäische und die indische Zivilisation in ihrer höchsten Form nur halbe Errungenschaften, erste Morgendämmerungen, die auf das volle Sonnenlicht, das noch kommen wird, hinwiesen. Weder Europa noch Indien noch irgendeine Rasse, irgendein Land oder Kontinent war je voll zivilisiert unter diesem Gesichtspunkt; niemand hat das volle Geheimnis eines wahren und vollkommenen menschlichen Lebens erfaßt, niemand hat auch nur das wenige, das vollbracht werden konnte, mit vollständigem Verständnis oder einer ganz und gar wachen Aufrichtigkeit zur Anwendung gebracht. Wenn wir Zivilisation als Harmonie von Geist. Mental und Körper definieren, wo war dann jene Harmonie vollständig oder ganz und gar real? Wo gab es nicht deutliche Mängel und schmerzhafte Disharmonien? Wo wurde des Geheimnis der Harmonie in all seinen Teilen völlig verstanden oder die vollständige Lebensmusik zu der herrlichen Behaglichkeit eines befriedigenden, dauerhaften und ständig wachsenden Einklangs entwickelt? Überall gibt es deutliche, häßliche, selbst abscheuliche Makel im Leben des Menschen, und vieles, das wir jetzt mit Gleichmut akzeptieren, vieles, worauf wir stolz sind, mag eine zukünftige Menschheit sehr wohl als Barbarei oder zumindest als halb barbarisch und unreif betrachten. Die Leistungen, die wir als ideal ansehen, wird man verurteilen als eine selbstgenügsam hingenommene Unvollkommenheit, als Blindheit gegenüber den eigenen Irrtümern. Die Gedanken und Ideen, die wir als Erleuchtung preisen, werden als Zwielicht oder Dunkelheit erscheinen. Nicht nur viele Formen unseres Lebens, die den Anspruch erheben, von alter Zeit oder gar von Ewigkeit zu sein (als ob man des von irgendeiner Art von Dingen sagen könnte), werden versagen und verschwinden. Die subjektiven Formen, die unseren besten Prinzipien und Idealen gegeben wurden, werden, vielleicht von der Zukunft bestenfalls verständnisvolle Nachsicht finden. Es gibt nur wenig, das nicht Ausweitung und Wandel benötigt, sich vielleicht so sehr wandeln muß, daß man es nicht mehr erkennen kann, oder akzeptieren muß, in einer neuen Synthese Modifiziert zu werden. Am Ende mögen die kommenden Zeitalter ähnlich auf das heutige Europa und auf Asien blicken, wie wir uns wilde Stämme oder primitive Völker betrachten. Und dieser Blick aus der Zukunft ist, wenn wir ihn erlangen können, ohne Zweifel der am meisten erleuchtende und dynamische Standpunkt, von dem aus wir unsere Gegenwart beurteilen können, aber er hebt nicht unsere relative Anerkennung vergangener und bestehender Kulturen auf.
Denn diese Vergangenheit und Gegenwart bilden die größeren Stufen jener Zukunft, und vieles davon wird gerade in dem überleben, was an ihre Stelle tritt. Hinter unseren unvollkommenen kulturellen Gestaltungen ist ein permanenter Geist, an dem wir festhalten müssen und der selbst hiernach permanent bleiben wird; es gibt gewisse Grundmotive oder essentielle Ideen-Kräfte, die nicht abgeworfen werden können, weil sie Teil des vitalen Prinzips unseres Wesens und des Ziels der Natur in uns sind, unser svadharma. Aber diese Motive, diese Ideen-Kräfte sind, ob für die Nation oder für die Menschheit als ganze, von geringer Zahl, schlich in ihrem Wesen und zu einer sich stets wandelnden und fortschreitenden Anwendung fähig. Der Rest gehört den weniger tief liegenden Schichten unseres Wesens an und muß sich dem sich wandelnden Druck des Zeitgeistes unterziehen und seinen progressiven Forderungen gerecht werden. Es gibt diesen permanenten Geist in den Dingen, und es gibt dieses beständige svadharma oder Gesetz unserer Natur; aber es gibt auch ein weniger bindendes System von Gesetzen sukzessiver Ausdruckgebung, - Rhythmen des Geistes, Formen, Tendenzen, Gewohnheiten der Natur, und diese machen die Wandlungen der Zeitalter, yugadharma, durch. Die Rasse muß diesem Doppelprinzip von Permanenz und Mutation gehorchen oder die Folgen einer Dekadenz und Entartung tragen, die selbst ihr Lebenszentrum in Mitleidenschaft ziehen könnte.
Sicher müssen wir jede desintegrierende oder schädliche Attacke mit Entschiedenheit abwehren. Aber es ist viel wichtiger, daß wir uns die eigene wahre und unabhängige Meinung bezüglich unserer Leistungen in der Vergangenheit, unserer gegenwärtigen Stellung und zukünftigen Möglichkeiten bilden, - was wir waren, was wir sind und was wir sein können. In unserer Vergangenheit müssen wir alles wahrnehmen, was bedeutend, wesenhaft, inspirierend, kräftigend, erleuchtend, siegreich und wirksam war. Und darin müssen wir wiederum erkennen, was dem permanenten, essentiellen Geist und dem ständigen Gesetz unseres kulturellen Wesens nahe stand, und von ihm trennen, was nur vorübergehend und von vergänglicher Form war. Denn nicht alles, was in der Vergangenheit bedeutend war, kann in der vergangenen Form bewahrt oder auf immer wiederholt werden; neue Notwendigkeiten, andere Ausblicke warten auf uns. Aber wir müssen auch erkennen, was fehlerhaft war, schlecht begriffen, unvollkommen formuliert, was nur den begrenzten Bedürfnissen des Zeitalters oder ungünstigen Umständen gemäß war. Denn es wäre recht müßig, davon auszugehen, daß alles in der Vergangenheit – selbst auf ihrem Gipfel – ganz und gar bewundernswert war und in seiner Art die höchste vollendete Leistung des menschlichen Mentals und Geistes darstellte. Dennoch müssen wir einen Vergleich dieser Vergangenheit mit unserer Gegenwart anstellen und die Ursachen unseres Verfalls verstehen und das Heilmittel für unsere Mängel und Leiden suchen. Das Gefühl der Größe unserer Vergangenheit darf nicht zu einer fatal hypnotisierenden Verlockung zum Nichtstun entarten; es sollte vielmehr zu erneuter und größerer Leistung anregen. Aber in unserer Kritik der Gegenwart dürfen wir nicht einseitig sein oder töricht unparteilich alles verurteilen, was wir sind oder getan haben. Indem wir uns selbst weder schmeicheln noch unseren Abstieg beschönigen oder unser eigenes Nest beschmutzen, um den Beifall des Fremden zu finden, müssen wir unsere tatsächliche Schwäche und ihre Wurzeln zur Kenntnis nehmen, aber auch unsere Augen mit noch größerer Aufmerksamkeit auf unsere Elemente der Kraft, unsere unverlierbaren latenten Möglichkeiten, unsere dynamischen Impulse der Selbsterneuerung richten.
Ein zweiter Vergleich ist anzustellen zwischen dem Westen und Indien. In der Vergangenheit Europas und in der Vergangenheit Indiens können wir unvoreingenommen die Erfolge des Westens beobachten, die Gaben, die er der Menschheit brachte, aber auch seine größeren Lücken, augenfälligen Mängel, seine gewaltigen und gar abscheulichen Sünden und Fehlschläge. Auf die andere Waagschale müssen wir die Leistungen und Fehlschläge des alten und mittelalterlichen Indien legen. Hier werden wir sehen, daß es wenig gibt, um dessen willen wir unseren Kopf vor Europa beugen müssen, aber vieles, worin wir es deutlich und manchmal unermeßlich übertreffen. Als nächstes aber müssen wir die Gegenwart des Westens mit seinem großen Erfolg, seiner Vitalität, seiner beherrschenden Anmaßung ins Auge fassen. Was bedeutend in ihm war, werden wir zulassen, aber wir werden auch seine Mängel, Fehltritte und Gefahren sorgfältig erfassen. Und mit dieser gefährlichen Größe müssen wir die Gegenwart Indiens vergleichen, seinen Abstieg und dessen Ursachen, seine Bemühungen um Erneuerung, seine Elemente, die jetzt und in der Zukunft immer noch seine überragende Größe ausmachen. Wir wollen all jenes prüfen und zur Kenntnis nehmen, was wir unvermeidlich vom Westen empfangen müssen, und sehen, wie wir es unserem eigenen Geist und unseren eigenen Idealen angleichen können. Aber wir wollen auch prüfen, welche Quellen eigener Kraft in uns sind, denen wir tiefere, vitalere und frischere Lebensströme entnehmen können als irgendeiner Sache, die der Westen bieten kann. Denn dies wird uns mehr helfen als okzidentale Formen und Motive, weil es natürlicher für uns, ist, stimulierender für unsere besondere Art, mehr angefüllt mit schöpferischen Ideen, leichter aufgenommen und vollständiger befolgt in praktischer Durchführung.
Noch weit hilfreicher als jeder dieser notwendigen Vergleiche wird der Blick nach vorne von unserer Vergangenheit und Gegenwart aus in Richtung auf das eigene und nicht irgendein fremdes Ideal der Zukunft sein. Denn unser evolutionärer Drang zur Zukunft ist es, der unserer Vergangenheit und Gegenwart ihren wahren Wert und ihre wahre Bedeutung geben wird. Indiens Wesen, seine Mission, das Werk, das es zu tun hat, seine Rolle in der Bestimmung der Erde, die besondere Kraft, die es repräsentiert, ist dort in seiner vergangenen Geschichte niedergeschrieben und ist der geheime Zweck hinter seinen gegenwärtigen Leiden und Prüfungen. Eine Neugestaltung der Formen unseres Geistes wird stattfinden müsse; aber es ist der Geist selbst hinter vergangenen Formen, den wir herauslösen und bewahren müssen und dem wir neue starke Gedankeninhalte, Kultur werte, eine neue Instrumentierung, größere Formen geben müssen. Und solange wir diese wesentlichen Dinge anerkennen und ihrem Geist treu sind, wird es uns nicht schaden, wenn wir selbst die drastischsten mentalen oder physischen Anpassungen und die extremsten kulturellen und gesellschaftlichen Wandlungen vornehmen. Aber diese Wandlungen selbst sind im Geist und im Modell Indiens vorzunehmen und keinem anderen, nicht im Geist Amerikas oder Europas, nicht nach dem Modell Japans oder Rußlands. Wir müssen die große Kluft erkennen zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir anstreben können oder sollten. Aber dies sollten wir nicht in einem Geist der Entmutigung oder Leugnung unserer selbst und der Wahrheit unseres Geistes tun, sondern um den Fortschritt abzustecken, den wir zu machen haben. Denn wir müssen seine wahren Grundlinien entdecken und in uns selbst das Streben und die Inspiration finden, das Feuer und die Kraft, um sie zu konzipieren und konzipieren und praktisch zu verwirklichen. Ein ursprünglich Wahrheitssuchendes Denken wird benötigt, wenn wir diesen Standpunkt einnehmen und einen Schritt in dieser Richtung unternehmen wollen, eine starke und mutige Intuition, eine nie versagende spirituelle und intellektuelle Geradheit. Der Mut, unsere Kultur gegen unwissende okzidentale Kritik zu verteidigen und sie gegenüber dem gigantischen Druck der Moderne zu halten, kommt an erster Stelle, aber zugleich muß der Mut vorhanden sein, die Irrtümer unserer Kultur nicht von irgendeinem europäischen Standpunkt, sondern von unserer eigenen Perspektive her einzugestehen. Abgesehen von allen Phänomenen des Niedergangs und Verfalls sollten wir ohne jedes sophistische Leugnen jene Dinge in unseren Überzeugungen hinsichtlich Leben und gesellschaftlichen Institutionen erkennen, die in sich selbst fehlerhaft und zum Teil auch unhaltbar sind, Dinge, die unser nationales Leben schwächen, unsere Zivilisation herabwürdigen, unsere Kultur entehren. Ein flagrantes Beispiel findet sich in der Art, in der wir unsere Kastenlosen behandeln. Es gibt jene, die dies als unvermeidlichen Irrtum unter den Umständen der Vergangenheit verteidigen wollen; und es gibt andere, die geltend machen, es sei die bestmögliche Lösung gewesen, die zu jener Zeit zur Verfügung stand. Wieder andere wollen sie rechtfertigen und sie – mit welchen Abwandlungen auch immer – weiter bestehen lassen als notwendig für unsere soziale Synthese. Der Vorwand war da, aber er rechtfertigt nicht eine Fortdauer. Die These ist sehr anfechtbar. Eine Lösung, die mittels Abspaltung ein Sechstel der Nation zu permanenter Schmach verurteilt, zu ständiger Verkommenheit, Unreinheit des inneren und äußeren Lebens und einer brutalen Tierexistenz, anstatt sie aus diesem Zustand zu befreien, ist keine Lösung, sondern ein Akzeptieren von Schwäche, eine ständige Wunde am Sozialkörper und seinem kollektiven spirituellen, intellektuellen, ethischen und materiellen Wohlergehen. Gesellschaftliche Synthese, die nur dadurch leben kann, daß sie aus der Herabwürdigung unserer Mitmenschen und Landsleute eine ständige Regel macht, ist zu Verfall und Unruhe verurteilt und vorbestimmt. Die üblen Wirkung können eine Zeitlang unterdrückt werden und wirken dann nur über die subtilere unsichtbare Aktion des karmischen Gesetzes; aber sobald das Licht der Wahrheit einmal auf diese dunklen Flecken hereingelassen wird, würde ihr Fortbestehenlassen bedeuten, daß ein Keim der Zersplitterung bewahrt und unsere Chancen auf ein letztendliches Überleben zerstört werden.
Weiter müssen wir unsere kulturellen Vorstellungen und unsere gesellschaftlichen Formen betrachten und prüfen, wo sie ihren alten Geist oder ihre wirkliche Bedeutung verloren haben. Viele von ihnen sind jetzt eine Fiktion und befinden sich nicht mehr in Einklang mit den Ideen, von denen sie ausgehen, und mit den Fakten des Lebens. Andere reichen nicht mehr für unsere weitere Entwicklung, selbst wenn sie an sich gut sind oder aber zu ihrer Zeit eine günstige Wirkung hatten. All diese sind entweder umzuwandeln oder aufzugeben, und wahre Ideen und bessere Formulierungen sind an ihrer Stelle zu finden. Die neue Richtung, die wir ihren geben müssen, wird nicht immer eine Rückkehr zu der alten Bedeutung sein. Die neuen dynamischen Wahrheiten, die wir zu entdecken haben, brauchen nicht in der begrenzten Wahrheit eines vergangenen Ideals eingehegt zu sein. Wir müssen den Suchscheinwerfer des Geistes auf unsere vergangenen und gegenwärtigen Ideale richten und sehen, ob sie nicht zu überwinden oder zu erweitern oder auf neue weitere Ideale abzustimmen sind. Alles, was wir tun oder schaffen, muß mit dem ständigen Geist Indiens im Einklang stehen, aber so gestaltet, sein, daß es in einen größeren harmonisierten Rhythmus paßt und plastisch gegenüber dem Ruf einer lichteren Zukunft ist. Wenn Glaube an uns selbst und Treue zum Geist unserer Kultur die ersten Grunderfordernisse für ein kontinuierliches und kraftvolles Leben sind, so ist eine Anerkennung größerer Möglichkeiten eine nicht minder unerlässliche Bedingung. Gesundes und siegreiches Überleben kann nicht stattfinden, wenn wir aus der Vergangenheit einen Fetisch machen anstelle eines inspirierenden Impulses.
Der Geist und die Ideale unserer Zivilisation benötigen keine Verteidigung, denn in ihren besten Teilen und in ihrer Essenz waren sie von ewigem Wert. Indiens innere und individuelle Suche nach ihnen war ernsthaft, kraftvoll, effektiv. Aber die Anwendung im gesellschaftlichen Leben war großen Einschränkungen unterworfen. Sie war nie kühn und tief genug und wurde dann immer mehr eingeschränkt und stockend, als die Lebenskraft in den Menschen nachließ. Dieser Mangel, diese Kluft zwischen Ideal und kollektiver Praxis war ein Manko allen menschlichen Lebens und nicht eine Besonderheit Indiens; aber die Dissonanz bildete sich im Laufe der Zeit deutlich heraus und drückte zumindest unserer Gesellschaft zunehmend den Stempel der Schwäche und des Versagens auf. Zu Beginn wurde eine beträchtliche Anstrengung unternommen, eine Art Synthese zwischen dem inneren Ideal und dem äußeren Leben zu entwickeln; aber eine statische Regulierung der Gesellschaft war ihr späteres Ende. Ein grundlegendes Prinzip von spirituellem Idealismus, eine schwer zu fassende Einheit und festgelegte hilfreiche Formen der Gegenseitigkeit blieben stets bestehen, aber auch ein wachsendes Element strikter Gebundenheit und kleinlicher Unterteilung und daraus resultierender Verworrenheit in der gesellschaftlichen Masse. Die großen vedantischen Ideale der Freiheit, Einheit und der Gottheit im Menschen waren der inneren spirituellen Anstrengung von Einzelnen über- lassen. Die Kraft zur Ausweitung und Assimilation nahm ab, und als mächtige und aggressive Kräfte von außen einbrachen, vom Islam, von Europa, gab sich die spätere Hindu-Gesellschaft zufrieden mit einer eingegrenzten und statischen Selbsterhaltung, der bloßen Erlaubnis zu leben. Die Lebensform wurde enger und enger, und ihr alter Geist konnte sich immer weniger behaupten. Fortdauer und Überleben wurden erreicht, aber es war am Ende nicht eine wirklich sichere und vitale Fortdauer, kein großes, robustes und siegreiches Überleben. Und jetzt ist das Überleben selber unmöglich geworden ohne Expansion. Wenn wir überhaupt leben wollen, müssen wir neu anknüpfen an Indiens große unterbrochene Anstrengung. Im Einzelnen und in der Gesellschaft, im spirituellen und weltlichen Leben, in der Philosophie und in der Religion, in Kunst und Literatur, im Denken, in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Gestaltung müssen wir den vollen und uneingeschränkten Sinn seines höchsten Geistes und Wissens unerschrocken aufgreifen und gründlich verwirklichen. Und wenn wir dies tun, werden wir entdecken, daß das Beste von dem, was in westlichen Formen zu uns kommt, bereits in unserer eigenen alten Weisheit enthalten ist und dort einen größeren Geist hinter sich hat, eine tiefere Wahrheit und Selbsterkenntnis und die Fähigkeit eines Willens zu edleren und idealeren Strukturen. Nur müssen wir uns gründlich im Leben erarbeiten, was wir im Geist bereits immer wussten. Dort und nirgendwo anders liegt das Geheimnis der erforderlichen Harmonie zwischen der wesenhaften Bedeutung unserer vergangenen Kultur und den umweltlichen Anforderungen unserer Zukunft.
Diese Schau eröffnet eine Aussicht jenseits der Schlacht der Kulturen, dem unmittelbaren gefährlichen Aspekt der Begegnung Ost und West. Der Geist im Menschen hat in der gesamten Menschheit nur ein Ziel von Augen; aber die verschiedenen Kontinente oder Völker wenden sich ihm von verschiedenen Seiten, mit verschiedenen Formulierungen und in einem verschiedenen Geist zu. Indem sie die grundlegende Einheit des letztlichen göttlichen Motives nicht erkennen, liefern sie einander die Schlacht und erheben den Anspruch, ihr Weg allein sei der wahre Weg für die Menschheit. Die eine wirkliche und vollkommene Zivilisation sei jene, in der sie zufällig geboren wurden, der Rest müsse zugrunde gehen oder verschwinden. Aber die wirkliche und vollkommene Zivilisation wartet noch auf ihre Entdeckung; denn das Leben der Menschheit ist immer noch neun Zehntel Barbarei gegenüber einem Zehntel Kultur. Der europäische Geist räumt den ersten Rang dem Prinzip des Wachstums durch Kampf ein; durch Kampf erlangt er eine Art Einvernehmen. Aber dieses Einvernehmen ist für sich selbst kaum mehr al seine Organisation für Wachstum durch Wettbewerb, Aggression und weiteren Kampf. Es ist ein Frieden, der ständig zersplittert – sogar in sich selbst – in erneuten Wettbewerb von Prinzipien, Ideen, Interessen, Rassen, Klassen. Es ist eine Organisation mit einer unsicheren Basis und einem unsicheren Zentrum, weil sie sich auf Halbwahrheiten gründet, die zu vollständigen Lügen entarten; aber sie ist noch, oder war bis jetzt, zu ständiger großer Leistung fähig und in der Lage, mächtig zu wachsen und zu verarbeiten und zu assimilieren. Die indische Kultur funktionierte auf dem Prinzip eines Einvernehmens, das seine Basis in einer Einheit zu finden suchte und wiederum ein größeres Einssein anstrebte. Ihr Ziel war ein dauerhafte Organisation, die das Prinzip des Kampfes auf ein Minimum reduzieren oder gar ganz ausschalten würde. Aber am Ende verhielt es sich so, daß sie Frieden und stabile Ordnung durch Ausschluss, Fragmentierung und Unveränderlichkeit des Status quo erreichte; sie zog einen magischen Sicherheitskreis und schloß sich endgültig in ihm ein.
Schließlich verlor sie ihre Kraft zur Aggression, schwächte ihr Vermögen zur Assimilation und verkam in ihren eigenen Schranken. Ein statisches, eingeschränktes Einvernehmen, das sich nicht ständig erweitert, nicht formbar ist, wird in unserem Zustand menschlicher Unvollkommenheit zu einem Gefängnis oder einer Schlafkammer. Einvernehmen kann nur unvollkommen und provisorisch in seiner Form sein und kann nur dann seine Vitalität bewahren und sein letztes Ziel erfüllen, wenn es sich ständig um stellt, ausweitet, voranschreitet. Seine geringeren Einheiten müssen sich ausweiten zu einem breiteren, umfassenderen und vor allem einem mehr realen und spirituellen Einssein. In der größeren Gestaltung unserer Kultur und Zivilisation, die wir jetzt vollbringen müssen, wird eine größere äußere Ausdrucksgebung spiritueller und psychologischer Einheit sicher ein Leit-Motiv sein, jedoch von einer Vielfalt, die die mechanische Methode Europas nicht duldet. Ein Einvernehmen, eine Einheit mit dem übrigen Teil der Menschheit, wobei wir unsere spirituelle und unsere äußere Unabhängigkeit erhalten werden, wird eine andere Grundrichtung unserer Anstrengung sein. Aber was jetzt als Kampf erscheint, kann sehr wohl der erste notwendige Schritt sein, bevor wir jene Einheit der Menschheit gestalten können, die der Westen nur der Idee nach konzipiert, aber nicht vollbringen kann, weil er nicht ihren Geist besitzt. Daher müht sich Europa, Einheit durch die Abstimmung widerstreitender Interessen und die Kraft mechanischer Institutionen zu begründen, aber wenn man es auf diese Weise versucht, wird sie entweder gar nicht oder aber auf Sand errichtet werden. Indessen will Europa jede andere Kultur auslöschen, als ob seine eigene die einzige Wahrheit, die ganze Wahrheit des Lebens wäre und es nicht so etwas wie Wahrheit des Geistes gäbe. Indien, alter Eigentümer der Wahrheit des Geistes, muß sich jenem arroganten Anspruch und Angriff widersetzen und trotz schwieriger Umstände gegen alle jeden seine eigenen tieferen Wahrheiten bekräftigen. Denn in der Bewahrung und Erhaltung der Wahrheit des Geistes liegt die einzige Hoffnung begründet, daß die Menschheit, anstatt auf eine Katastrophe und eine primitiven Anfang unter ständiger Wiederholung der alten blinden Zyklen zuzugehen, endlich ins Licht eintreten wird und den Schritt nach vorne nimmt, der die irdische Evolution auf die nächste Stufe des Aufstiegs in der fortschreitenden Offenbarung des Geistes bringen wird.
Ein rationalistischer Kritiker zur indischen Kultur
Wenn wir eine Kultur einzuschätzen versuchen und es sich dabei um diejenige Kultur handelt, in der wir groß geworden sind oder der wir unsere Leitbilder entnehmen und deren Mängel wir aus übermäßiger Parteilichkeit leicht verkleinern oder von der wir aufgrund übermäßiger Vertrautheit Aspekte und Werte übersehen, die dem ungewohnten Auge auffallen würden, so ist es stets nützlich und interessant zu wissen, wie andere sie betrachten. Das muß uns nicht veranlassen, unseren eigenen Standpunkt zugunsten des ihrigen zu ändern; doch können wir einer Studie dieser Art neue Einsichten entnehmen und unserer Selbsterkenntnis aufhelfen. Aber es gibt verschiedenen Arten, eine fremde Zivilisation und Kultur zu betrachten. Es gibt das Auge, das mit Sympathie, Intuition und eng vertrauter, anerkennender Selbstidentifizierung betrachtet: das bieten uns Werke wie Schwester Niveditas Web of Indian Life oder Fieldings Buch über Burma oder Sir John Woodroffes Studien über Tantra. Dies sind Versuche, alle verhüllenden Schleier wegzunehmen und die Seele eines Volkes zu offenbaren. Es ist gut möglich, daß uns nicht alle harten äußeren Fakten mitteilen, aber wir werden über etwas Tieferes belehrt, das eine größere Wirklichkeit besitzt; wir bekommen nicht die Sache, so wie sie sich in den Unvollkommenheiten des Lebens ausnimmt, sondern ihre ideale Bedeutung. Die Seele, der wesenhafte Geist, ist das eine, die Formen, die in dieser schwierigen menschlichen Realität angenommen wurden, sind das andere, und sie sind oft unvollkommen und entstellt. Keines von beiden darf vernachlässigt werden, wenn wir eine Schau des Ganzen anstreben. Denn gibt es das Auge des scharfsinnigen und unvoreingenommenen Kritikers, der versucht, die Sache ihrer Intention und Wirklichkeit nach zu sehen, Licht und Schatten zu verteilen, Gutes und Schlechtes, Erfolg und Versagen abzuwägen, und jenes, was anerkennende Sympathie erweckt, abzusondern von dem, was kritischen Tadel erfordert. Wir mögen vielleicht nicht immer zustimmen; der Standpunkt ist verschieden, und aufgrund seiner Äußerlichkeit, bei Versagen von Intuition und Selbstidentifizierung, können ihm Dinge entgehen, die von wesentlicher Bedeutung sind, oder er erfaßt vielleicht nicht die volle Bedeutung dessen, was er lobt oder verurteilt:
dennoch ziehen wir Nutzen daraus, wir können unser Gefühl für Schattierung und Tönung bereichern oder unser vorheriges Urteil korrigieren. Schließlich gibt es noch das Auge des feindseligen Kritikers, der von der Unterlegenheit der in Frage stehenden Kultur überzeugt ist und der schlicht und ehrlich, ohne bewusste Übertreibung, das vorbringt, was er als gesunde Grundlage für sein Urteil ansieht. Auch dies hat seinen Nutzen für uns; feindselige Kritik dieser Art ist gut für die Seele und den Intellekt, vorausgesetzt wir lassen uns nicht in Mitleidenschaft ziehen, niederdrücken oder herunter zerren vom Basiszentrum unseres lebendigen Glaubens und Handelns. Die meisten Dinge in unserer Menschenwelt sind unvollkommen, und es ist manchmal heilsam, wenn man uns unsere Unvollkommenheiten rigoros vorhält. Zumindest können wir lernen, entgegengesetzte Stand-punkte zu würdigen, und an die Quelle des Widerstandes gelangen; Weisheit, innere Schau und Sympathie wachsen durch solche Vergleiche.
Wenn feindselige Kritik aber den Wert des Heilsamen haben soll, so muß es Kritik sein, nicht Verleumdung, falsches Zeugnis oder bissige Worte. Sie muß die Tatsachen anführen, ohne sie zu entstellen, gleiche Maßstäbe in der Beurteilung anlagen, eine gewisse Bemühung um Gerechtigkeit und gesunden Menschenverstand zeigen sowie Maß halten. William Archers bekanntes Buch über Indien, das ich gerade aufgrund seiner Mängel als Typus der charakteristisch westlichen oder anti-indischen Betrachtungsweise unserer Kultur gewählt habe, war sicherlich nicht von dieser Art. Wir finden hier nicht nur totale und unerbittliche Verurteilung, ein Bild, das ganz Schatten ohne Licht ist. Dies ist eine Empfehlung, denn Archers offen eingestandenes Ziel war es, die begeisterte Heiligsprechung der indischen Kultur durch ihre Bewunderer nach Art des advocatus diaboli herauszufordern. Dessen Aufgabe ist es, alles, was gegen den Anspruch gesagt werden kann, herauszufinden und höchst wortkräftig festzustellen. Auch für uns es nützlich, wenn einer Attacke konfrontiert werden, die das gesamte Feld abdeckt, so daß wir mit einem einzigen umfassenden Blick die ganze Feindposition gegenüber unserer Kultur erkennen können. Aber es gibt in seiner Aussage drei entstellende Elemente. Erstens hatte sie ein verstecktes, ein politisches Ziel: Sie begann mit dem Grundgedanken, es müsse bewiesen werden, daß Indien ganz und gar barbarisch sie, um dadurch dessen Anspruch auf Selbstverwaltung zunichte zu machen oder zu schwächen. Diese Art sachfremder Motivation macht sein ganzes Plädoyer sogleich unannehmbar; denn es bedeutet ständige bewusste Entstellung, um einem materiellen Interesse zu dienen, das den intellektuellen Zielen und der Unvoreingenommenheit in Kulturvergleich und Kulturkritik ganz und gar wesensfremd ist.
Tatsächlich bietet dieses Buch keine Kritik; es ist literarischer oder vielmehr journalistischer Boxkampf. Auch hier ist es ein Kampf besonderer Art; es ist ein furioser Trainigskampf gegen die Gliederpuppe Indien, die mittels eines langen und überschwenglichen Tanzes der Fehlaussage und Übertreibung nach Belieben niedergeschlagen wird in der Hoffnung, ein unwissendes Publikum zu überzeugen, der Darsteller habe einen lebendigen Widerpart niedergestreckt. Gesunder Menschverstand, Gerechtigkeit und Maß sind Dinge, die absolut nicht gefragt sind. Eine Show scheinbar phantastischer und unmiderstehlicher Schläge ist das angestrebte Ziel, und für diesen Zweck erweist sich jeder Kniff als nützlich. Die Fakten sind völlig falsch präsentiert oder schwerfällig karikiert, Gedanken, die höchst fernlie- gend und unbegründet sind, werden mit dem Gebaren der Offensichtlichkeit vorgebracht, und höchst unlogische Widersprüchlichkeiten zugelassen, wenn ein scheinbarer Punkt gewonnen werden kann. All dies ist nicht die gelegentliche Spielerei eines gut informierten Kritikers, der unter einem Anfall von mentalem Trübsinn leidet und sich getrieben fühlt, sie mittels einer extravaganten intellektuellen Übung abzureagieren, eine unverantwortliche Phantasie oder ein feindlicher Kriegstanz um ein Thema, dem gegenüber er keins Sympathie empfindet. Jenes ist eine Art Extravaganz, die manchmal zulässig ist, interessant und amüsant sein kann. Es ist angenehm und lieblich, erklärt der römische Dichter, den Narren am rechten Ort und zur rechten Zeit zu spielen, dulce est desipere in loco. Aber Archers ständige Ausflüge in die irrationale Extravaganz sich keinem Fall in loco. Wir entdecken sehr bald – zusätzlich zu seinem illegitimen Motiv und seiner bewussten Unredlichkeit ist dies ein dritter und entscheidender Mangel -, daß er zum größten Teil absolute nichts von den Dingen wußte, über die er seine selbstsicheren Aburteilungen aussprach. Was er tat, war dies: Er sammelte in seinem Bewußtsein alle unvorteilhaften Kommentare, die er über Indien gelesen hatte, ergänzte sie mit beiläufigen eigenen Eindrücken und legte diese unheilsame und substanzlose Mischung als sein Eigenprodukt vor, obgleich sein einziger echter und persönlicher Beitrag die frohe Selbst-Überzeugung seiner Meinungen aus zweiter Hand ist. Das Buch ist journalistischer Betrug, nicht ehrliche Kritik.
Der Autor war offenbar keine Autorität in Metaphysik, die er als Mißbrauch des menschlichen Mentals verachtet. Und doch formuliert er ausführlich ein Gesetz von den Werten indischer Philosophie. Er war ein Rationalist, für den Religion ein Irrtum ist, eine psychische Krankheit, eine Sünde gegen die Vernunft; und doch urteilt er hier vergleichsweise zwischen den Ansprüchen von Religionen und weist dem Christentum ein proxime accessit zu, hauptsächlich deshalb, so scheint es, weil Christen nicht ernsthaft an ihre eigene Religion glauben – möge der Leser nicht lachen, das Buch führt in vollem Ernst diesen erstaunlichen Grund an – und verweist den Hinduismus ins Hinterfeld. Er gesteht ein, nicht competent zu sein, über Musik zu schreiben, und doch hielt ihn dies nicht davon ab, der indischen Musik den Rang hoffnungsloser Mäßigkeit zuzuordnen. Sein Urteil über Kunst und Architektur ist äußerst beschränkt; aber er geht sehr großzügig mit seinen unbeirrbaren Aburteilungen um. Bei Drama und Literatur würde man bessere Dinge von ihm erwarten; aber die erstaunliche Oberflächlichkeit seiner Wertmaßstäbe und seiner Argumente läßt einem im Zweifel, wie in aller Welt er denn seinen Ruf als Theater-und Literaturkritiker erwarb: Man gelangt zu dem Schluss, daß er entweder beim Umgang mit europäischer Literatur eine ganz andere Methode angewandt hat oder aber daß es sehr leicht ist, eine Reputation dieser Art in England zu erwerben. Schlechte Information durch Fehldarstellung von Fakten, Sorglosigkeit und Unbesonnenheit im Urteil über Dinge, die er gar nicht studiert hat, machen den Anspruch dieses Kritikers aus, über indische Kultur zu schreiben und sie autoritativ als Masse von Barbarei abzuurteilen.
Wenn ich mich also mit William Archer auseinandersetze, sonst geschieht es nicht, weil es sich um die gut informierte Sicht eines Außenstehenden oder auch nur eine lehrreiche feindselige Kritik an der indischen Zivilisation handelt. Letztendlich können nur diejenigen, die eine Kultur besitzen, den ureigenen Wert ihrer Schöpfungen beurteilen, weil sie allein ganz in den Geist dieser Kultur eindringen können. Vom außenstehenden Kritiker können wir nur Hilfe zur Bildung eines vergleichenden Urteils erwarten,- was ebenfalls unerlässlich ist. Aber wenn wir aus irgendeinem Grund vom Urteil eines Außenstehenden abhingen, um uns eine definitive Meinung über diese Dinge zu bilden, so leuchtet ein, daß wir uns in jedem Bereich Personen zuwenden müssen, die mit einiger Autorität sprechen können. Für mich zählt kaum; was Mr. Archer oder Dr. Gough oder der namentlich nicht genannte englische Professor von Sir John Woodroffe über indische Philosophie sagen; für mich genügt zu wissen, was Emerson, Schopenhauer oder Nietzsche, drei ganz verschiedene Denker-Persönlichkeiten von höchster Potenz in diesem Bereich, oder Denker wie Cousins und Schlegel dar über zu sagen haben. Mir genügt es, den zunehmenden Einfluß einiger ihrer Konzepte festzustellen, die großen Parallelen im früheren europäischen Denken und die Verifizierungen alter indischer Metaphysik und Psychologie, die Resultate der modernsten Forschung sind. In der Religion werde ich mich nicht gerade an Harold Begbie oder irgendeinen europäischen Atheisten oder Rationalisten wenden, um sein Urteil über unsere Spiritualität zu bekommen, ich werde vielmehr prüfen, welches die Eindrücke von aufgeschlossenen Menschen mit religiösem Gefühl und religiöser Erfahrung sind, die allein als Richter fungieren können, zum Beispiel ein spiritueller und religiöser Denker wir Tolstoi. Oder ich prüfe gar – wobei ich eine unvermeidliche Voreingenommenheit zugestehe -, was der kultivierte christliche Missionar über eine Religion zu sagen hat, die er nicht mehr als barbarischen Aberglauben abweisen kann. In der Kunst werde ich nicht die Meinung des durchschnittlichen Europäers heranziehen, der nichts vom Geist, der Bedeutung oder Technik indischer Architektur, Malerei und Skulptur weiß. Bezüglich der ersteren werde ich eine anerkannte Autorität wie Ferguson konsultieren; hinsichtlich der anderen kann ich, wenn Kritiker wie Havell als parteiische abzulehnen sind, zumindest etwas von Okakura oder Laurence Binyon lernen. In der Literatur werde ich niemanden finden, denn meines Wissens hatte kein westlicher Schriftstellter von Genie und hoher Reputation als Kritiker eine authentische Kenntnis der Sanskrit-Literatur oder der praktischen Dialekte. Ein Urteil, das sich auf Übersetzungen gründet, kann sich nur mit dem Stoff auseinandersetzen, - und selbst dies ist in den meisten Übersetzungen indischer Werke nur der tote Stoff, der seines gesamten Lebensatems beraubt ist. Aber selbst hier wird Goethes bekanntes Epigramm zu Shakuntala genügen, um mir zu zeigen, daß alle indische Literatur im Vergleich zu europäischer Schöpfung nicht von barbarischer Minderwertigkeit ist. Und vielleicht finden wir hier und da einen Gelehrten von literarischem Geschmack und Urteil – eine nicht allzu gewöhnliche Kombination –, der uns helfen kann. Diese Art Ausflug wird uns sicher nicht ein völlig zuverlässiges Wertschema geben, aber in jedem Fall werden wir hier sicherer aufgehoben sein, als wenn wir uns dem Tieflandvolk der Goughts, Archers und Begbies zuwenden.
Wenn ich es dennoch als notwendig oder nützlich erachte, diese Abhandlungen zur Notiz zu nehmen, so geschieht es zu einem ganz anderen Zweck. Selbst für jenen Zweck ist nicht alles, Archer schreibt, nützlich; vieles davon ist so irrational, inkonsequent oder gewissenlos in seinem Gedankengebilde, daß man es nur zur Kenntnis nehmen kann, ohne ihm irgendwelche Beachtung zu schenken. Wenn er zum Beispiel seinen Lesern versichert, indische Philosophen meinten, der beste Weg, um die Wahrheiten des Universums zu ermitteln, sei das Sitzen mit gekreuzten Beinen und Kontemplation über den eigenen Nabel, und ihr wirkliches Ziel sei träge Unbeweglichkeit und von den Almosen der Gläubigen zu leben, so ist sein Zweck, wenn er dann eine der Stellungen abstrakter Meditation beschreibt, der Meditation als solcher in den Augen der unwissenden englischen Leser den Charakter eines törichten Unsinns und einer selbstsüchtigen Faulheit aufzustempeln. Dies ist ein Beispiel seiner Gewissenlosigkeit, das uns hilft, die Kniffe seines rationalistischen Mentals zu bemerken, das sonst aber keinem anderen Zweck dient. Wenn er bestreitet, daß es ein wirkliches Sittengesetz im Hinduismus gebe, oder erklärt, dieser habe nie Sittenlehre als eine seiner Aufgaben betrachtet – Aussagen, die das genaue Gegenteil der wirklichen Tatsachen sind – wenn er soweit geht zu behaupten. Hinduismus sei der Charakter des Volkes und indiziere eine melancholische Neigung zu all jenem, das monströs und schädlich sei, so kann man nur zu dem Schluß gelangen, daß Wahrheitsrede nicht eine der sittlichen Tugenden ist, deren Übung William Archer für notwendig hielt, zumindest, daß sie nicht notwendigerweise Teil der Religionskritik eines Rationalisten zu sein braucht.
Aber nein, schließlich und endlich wirft Archer dann soch grollend eine Gabe auf den Altar der Wahrheit; denn er gesteht im selben Atemzug ein, der Hinduismus spreche viel von Rechtschaffenheit, und konzediert, daß es in den hinduistischen Schriften viele bewundernswerten ethische Doktrinen gebe. Aber das beweist ihm nur, daß Hindu-Philosophie unlogisch sei. Das Sittengesetz findet sich dort tatsächlich, aber es sollte eigentlich nicht da sein; sein Vorhandensein läßt sich nicht mit Archers These vereinbaren. Man bewundere die Logik, die rationale Folgerichtigkeit dieses Vorkämpfers des Rationalismus! Und man beachte zur selben Zeit, daß einer seiner Einwände gegen das Ramayana, zugestandenermaßen eine der Bibeln des Hindu-Volkes, darin besteht, daß seine Idealfiguren, Rama und Sita, Musterbilder des höchsten indischen Ideals von Mann und Frau, für seinen Geschmack viel zu tugendhaft sind. Rama ist zu heilig für die menschliche Natur. Tatsächlich ist mir nicht bekannt, daß Rama heiliger als Christus oder Franziskus wäre, doch mir schien immer, daß sie sich im Rahmen der menschlichen Natur bewegten. Aber vielleicht wird dieser Kritiker antworten, daß ihre übermäßigen Tugenden, wenn auch nicht jenseits menschlicher Grenzen, so doch zumindest wie die tägliche Praxis des Hindu-Kultes seien. Sollen wir zum Beispiel sagen, gewissenhafte körperliche Reinheit, persönliche Sauberkeit und die tägliche Hinwendung zu Gott in Anbetung und Meditation,-reicht aus, sie außerhalb des Rahmens der Zivilisation anzusiedeln? Denn er sagt uns, Sita, ein Ebenbild ehelicher Treue und Keuschheit, sei so maßlos in ihrer Tugend, daß es an Unmoral grenzt. Sinnlose gerissene Extravaganz hat hier ihren höchsten Punkt erreicht, wenn sie so dem Idiotischen nahe kommt. Ich bedaure ebenso, dieses Epithel zu benutzen, wie Archer bedauert, auf indischer Barbarei herumzureiten, aber man kann wirklich nicht umhin; es bringt den Wesenskern der Situation zum Ausdruck. Wenn alles von dieser Art wäre – es gibt zu viel davon, und das ist beklagenswert, - so wäre ein verächtliches Schweigen die einzig mögliche Antwort. Aber glücklicherweise spannt Apollo seinen Bogen nicht immer so bis zum Punkt, wo er bricht; nicht alle Teile von Archer folgen diesem wilden Flug. Vieles in seinem Buch drückt in grober Form, doch hinreichend genau das Gefühl des Widerwillens aus, das das durchschnittliche okzidentale Mental bei seiner ersten Begegnung mit den einzigartigen Wesensrügen der indischen Kultur erfährt, und das ist etwas, was der Kenntnisnahme und Erforschung wert ist; es ist notwendig, dies zu verstehen und seinen Wert zu ergründen.
Dies ist der Nutzen, von dem ich Gebrauch machen möchte; denn ein Nutzen ist es und sogar mehr als das. Durch den Durchschnittsverstand gelangen wir am besten zum Felsgrund der psychologischen Differenzen, die große Blöcke unserer gemeinen Menschheit voneinander trennen. Das kultivierte Mental hat eine Tendenz, die Kraft dieser Vorurteile zu mildern oder zumindest auch innerhalb von Differenz und Opposition Berührungs- oder Kontaktpunkte zu entwickeln. Bei der Durchschnittsmentalität haben wir eine bessere Chance, sie in ihrer schlichten Kraft und ihrer vollen Tragweite zu erkennen. Archer hilft unshier in bewundernswerter Weise. Nicht, daß wir nicht zunächst viel Unrat wegkehren müßten, um zu dem zu gelangen, was uns interessiert. Ich hätte mich lieber mit einem Handbuch des Mißverstehens auseinandergesetzt, das dieselbe große Themenweite hätte, sich jedoch unmittelbarer und einfach und weniger verächtlich, gerissen und oberflächlich feindselig ausdrückt; aber ein solches Werk steht nicht zur Verfügung. Daher wollen wir uns mit Archer auseinandersetzen und einige seiner Vorurteile sezieren, um ihr innere Psychologie zu er-schließen. Vielleicht werden wir dabei entdecken, daß wir durch all diese unerfreuliche Rohheit die Essenz eines historischen Mißverständnisse zwischen Kontinenten ergründen können. Ein genaues Verständnis dessen könnte uns sogar einer Art Aussöhnung näher bringen.
Wir beginnen am besten mit einem präzisen Bild jener Art von Kritiker, der wir unsere Einschätzung gegnerischer Positionen entnehmen werden. Was wir hier antreffen, sind die Gedanken eines durchschnittlichen und typischen abendländischen Mental über die indische Kultur, eine Person von hinreichender Ausbildung und großer Belesenheit, aber kein Genie oder außerordentlich begabter Mann, vielmehr ein gewöhnliches erfolgreiches Talent, keine mentale Flexibilität oder verständnisvolle Anteilnahme des Geistes, sondern bestimmte und starre Ansichten, die abgestützt werden und den Anschein von Substanz erhalten durch die Gewohnheit, eine vielfältige, obgleich nicht immer solide Information wirkungsvoll zu vermitteln. Wir haben hier exakt Denkart und Standpunkt eines durchschnittlichen Engländers von einiger Kapazität vor uns, der durch die Gewohnheiten des Journalismus geformt wurde. Dies ist genau, was wir brauchen, um die Natur des Gegensatzes zu erfassen, die Rudyard Kipling – er selbst war ein Super-Journalist und übertriebener nicht-natürlicher Durchschnittsmensch, gehobener Durchschnitt, ohne aufzuhören. Letzteres zu sein, gehoben durch den Glanz einer Art unreifen und barbarischen Genies – dazu führte, von der ewigen Unversöhnlichkeit von Ost und West zu sprechen. Wir wollen sehen, was einer solchen Mentalität als einzigartig und abstoßend zum indischen Mental und seiner Kultur ins Auge fällt: Wenn wir alle persönliche Empfindlichkeit hintanstellen können und dieses Phänomen nüchtern betrachten, werden wir finden, daß e seine interessante und auf-klärende Studie ergibt.
Man mag einen gewissen Einwand dagegen erheben, daß hier ein rationalistischer Kritiker mit einem politischen Vorurteil, ein Mental, das im besten Fall zu einem Heute gehört, das bereits zum Gestern wird, in diesem repräsentativen Umfang herangezogen wird. Das Mißverständnis der Kontinente war das Resultat lange bestehender historischer Differenz, und dieses Buch stellt nur eine Phase davon dar, die von sehr moderner Art ist. Aber es geschah in modernen Zeiten, in einem Zeitalter wissenschaftlicher und rationalistischer Aufklärung, daß die Differenz am ausgeprägtesten wurde, das Mißverständnis am aggressivsten und das Gefühl kultureller Unvereinbarkeit am bewusstesten und deutlichsten. Ein alter Grieche, voll unvereingenommener intellektueller Wissbegierde und von flexibler ästhetischer Einschätzung, stand trotz seines Gefühls rassischer und kultureller Überlegenheit gegenüber den Barbaren dem indischen Geist viel näher als ein typisch moderner Europäer. Nicht nur ein Pythagoras oder ein Philosoph der Neuplatonischen Schule, ein Alexander oder ein Miteinander konnte mit bereitwilliger Sympathie die Kerngedanken asiatischer Kultur verstehen, man kann auch davon ausgehen, daß ein durchschnittlicher Mensch von Format, ein Megasthenes zum Beispiel, zu Schau und Verständnis fähig war, wenngleich nicht von innen her und vollkommen, so doch in hinreichendem Maße. Der mittelalterliche Europäer ähnelte, bei all seinem militanten Christentum und seinem Vorurteil gegen den Ungläubigen und den Heiden, seinem Widerpart doch vielfach hinsichtlich der charakteristischen Art des Sehens und Fühlens in einem Ausmaß, das einem durchschnittlichen europäischen Mental heute nicht mehr möglich ist, es sei denn, es ist mit den neuen Ideen gespeist worden, die die Kluft zwischen den Kontinenten einmal mehr verringern. Es war das Rationalisieren des westlichen Mentals, das Rationalisieren selbst seiner religiösen Gedanken und Empfindungen, welches die Kluft so groß werden ließ, daß sie unüberbrückbar erschien. Unser Kritiker repräsentiert diese erhöhte Feindseligkeit in einer extremen Form, einer Gestalt, die ihr vom nicht denkenden Freidenker gegeben wird, dem Mann, der diese schwierigen Probleme nicht ursprünglich durchdacht hat, sondern seine Anschauungen seiner kulturellen Umgebung und der intellektuellen Atmosphäre dieser Epoche entnommen hat. Er wird die gegensätzlichen Punkte gewaltig übertreiben, sie aber gerade durch die Übertreibung deutlicher herausheben und ersichtlich machen. Seinen Mangel an korrekter Information und intelligenter Forschung wird er wettmachen durch eine gewisse Instinktsicherheit in seinem Angriff auf Dinge, die seiner eigenen mentalen Anschauung fremd sind.
Es ist diese Instinktsicherheit, die ihn dazu führte, den eigentlichen Schwerpunkt seines Angriffs gegen indische Philosophie und Religion zu richten. Die Kultur eines Volkes läßt sich grob beschreiben als der Ausdruck eines Bewußtseins von Leben, das sich in drei Aspekten formuliert. Wir haben einen Aspekt des Denkens, des Ideals, des aufwärts gerichteten Willens und der Sehnsucht der Seele; wir haben ferner den Aspekt des schöpferischen Selbstausdrucks und der anerkennenden Aesthesis, Intelligenz und Vorstellungskraft; und schließlich einen Aspekt praktischer und äußerer Gestaltung. Die Philosophie und das höhere Denken des Volkes geben uns von dessen Mental die reinste, weiteste und allgemeinste Formulierung seines Bewusstseins vom Leben und seiner dynamischen Weltanschauung. Seine Religion bildet die intensivste Form seines aufstrebenden Willens und legt die Aspirationen der Seele zur Erfüllung ihres höchsten Ideals und Antriebs dar. Seine Kunst, Dichtung, Literatur geben uns den kreativen Ausdruck und Eindruck von seiner Intuition, Vorstellungskraft, vitalen Ausrichtung und schöpferischen Intelligenz. Seine Gesellschaft und Politik liefern in ihren Formen einen äußeren Rahmen, in dem das mehr äußerliche Leben von seinem anfeuernden Ideal, seinem besonderen Charakter und seiner Natur ausarbeitet, was ihm unter den Schwierigkeiten der Umgebung möglich ist. Wir können sehen, wieviel as von dem ungeformten Lebensmaterial genommen, was es damit getan, wie es so viel möglich davon zu einer Art Ebenbild seines leitenden Bewusstseins und tieferen Geistes gestaltet hat. Keines von ihnen drückt den gesamten geheimen Geist dahinter aus, aber sie beziehen ihre Hauptgedanken und ihren kulturellen Charakter von dort. Zusammen bilden sie seine Seele, sein Mental und seinen Körper. In der indischen Zivilisation hatten Philosophie und Religion die Führung inne, Philosophie dynamisch gemacht durch Religion und Religion aufgeklärt durch Philosophie, - der Rest folgt, so gut er kann. Dies ist in der Tat ihr erstes Charaktermerkmal, das sie mit den höher entwickelten asiatischen Völkern teilt, jedoch zu einem außergewöhnlichen Grad tiefer Durchdringung geführt hat. Wenn man sie eine brahmanische Zivilisation nennt, so ist dies die eigentliche Bedeutung des Wortes. Es kann nicht wirklich irgendeine Vorherrschaft des Priesterwesens beinhalten, obgleich der priesterliche Geist in einigen niederen Aspekten der Kultur nur zu deutlich hervortrat; denn der Priester als solcher war nicht daran beteiligt, der Kultur ihre großen Grundlinien zu geben. Aber es ist wahr, daß ihre Hauptmotive durch philosophische Denker und religiöse Gemüter geformt wurden, und in keinem Falle waren sie alle Brahmanen von Geburt. Die Tatsache, daß eine Klasse entwickelt wurde, deren Aufgabe es war, die spirituellen Traditionen, das Wissen und das heilige Gesetz des Volkes zu bewahren, - denn dies und nicht ein bloßes Priesteramt war die eigentliche Aufgabe des Brahmanen, - und daß diese Klasse Tausende von Jahren die Haltung des nationalen Mentals und Gewissens und die Grundrichtung gesellschaftlicher Prinzipien, Formen und Sitten weitgehend sicherstellen, jedoch nicht monopolisieren konnte, ist nur ein Hinweis auf das Typische. Dahinter steht die Tatsache, daß die indische Kultur von Anfang an eine spirituelle, nach innen gerichtete religiös-philosophische Kultur war und geblieben ist. Alles andere in ihr leitete sich von jener einen zentralen und ursprünglichen Besonderheit ab oder war in diese oder jener Weise abhängig von ihr oder ihr untergeordnet; selbst das äußere Leben wurde dem nach innen gerichteten Geist unterworfen.
Unser Kritiker fühlte die Bedeutung dieses Kernpunktes und hat dagegen seine höchst unerbittliche Attacke gerichtet. In anderen Bereichen mag er Zugeständnisse machen, Abschwächungen zulassen, hier wird er keine einräumen. Hier muß alles schlecht und schädlich sein, oder wenn nicht ungesund, so solch aufgrund der Natur selbst der zentralen Gedanken und Motive unfähig, wirklich Gutes zu vollbringen. Dies ist eine bezeichnende Haltung. In der Tat gibt es hier das polemische Motiv. Was für das indische Bewusstsein und seine Zivilisation beansprucht wird, ist eine hohe Spiritualität, hoch auf allen Gipfeln des Denkens und der Religion, wobei sie Kunst, Literatur, religiöse Praxis und gesellschaftliche Vorstellungen durchdringt und die Lebenseinstellung selbst des gewöhnlichen Menschen beeinflusst. Wenn dieser Anspruch zugestanden wird, was alle wohlgesinnten und unvoreingenommenen Sucher bereit sind zu tun, selbst wenn sie die indische Lebensanschauung nicht akzeptieren, dann hat die indische Kultur ihren Rang und ihre Zivilisation ein Recht auf Existenz. Mehr als das, sie hat sogar ein Recht, den rationalistischen Modernismus herauszufordern und zu sagen” Erreiche erst mein Niveau der Spiritualität, bevor du den Anspruch erhebst, mich zu zerstören und zu verdrängen, oder mich aufforderst, ich solle mich ganz in deinem Sinn modernisieren, Wenn ich auch in letzter Zeit von meinen Höhen gefallen bin oder meine gegenwärtigen Formen nicht alle Erfordernisse des künftigen Mentals der Menschheit erfüllen, so kann ich doch wieder aufsteigen, die Kraft ist in mir. Ich kann sogar in der Lage sein, einen spirituellen Modernismus zu entwickeln, der dir in dieser Bemühung helfen wird, dich selbst zu überwinden und zu einer größeren Harmonie zu gelangen als irgendeiner, die du in der Vergangenheit erreicht hast oder von der du in der Gegenwart träumen kannst. Der feindselige Kritiker spürt, daß er diesen Anspruch an seiner Wurzel leugnen muß. Er versucht zu beweisen, daß indische Philopohie unspirituell und die indische Religion ein irrationaler animistischer Kult der Absonderlichkeit sei. In diesem Bemühen, welches ein Versuch ist, die Wahrheit auf den Kopf zu stellen und zu zwingen, Fakten umgekehrt zu sehen, gelangt er zu eine paradoxen Ungereimtheit und Widersprüchlichkeit, die seine Sache durch schiere Übertreibung zunichte macht. Und doch zeichnen sich selbst in diesem Durcheinander zwei echte Fragestellungen ab. Erstens können wir fragen, ob die spirituelle, religiös-philosophische Lebensanschauung und Lenkung der Zivilisation durch ihre Vorstellungen und Motive oder aber die rationalistische, nach außen gerichtete Lebensanschauung und Befriedigung des vitalen Wesens, gelenkt durch die intellektuelle und praktische Vernunft, der Menschheit die beste Führung verschaffen. Und wenn wir einmal den Wert und die Kraft eines spirituellen Lebenskonzepts voraussetzen, können wir fragen, ob der Ausdruck, der ihm von der indischen Kultur gegeben wird, der bestmögliche und der förderlichste ist für des Wachstum der Menschheit zu ihrem höchsten Entwicklungsstand. Dies sind die wirklichen Fragen, die zwischen dem asiatischen oder historischen Mental und der europäischen oder modernen Intelligenz zu Diskussion stehen.
Der typisch okzidentale Verstand, der noch die Mentalität des 18. und 19. Jahrhunderts fortsetzt, wurde fast völlig von der zweiten Anschauung geformt. Er hat die Gestalt des vitalistischen rationalen Gedankens angenommen. Seine Einstellung zum Leben wurde nie von einem philosophischen Daseinskonzept bestimmt, abgesehen von einer kurzen Periode der griechischrömischen Kultur und selbst da nur bei einer kleinen Klasse denkender und hoch kultivierter Persönlichkeiten; stets wird er dominiert von Notwendigkeiten der Umwelt und praktischer Vernunft. Er hat auch jene Zeitalter hinter sich gelassen, in denen spirituelle und religiöse Konzepte, die vom Osten eindrangen, sich der vitalistischen und rationalen Tendenz aufzuzwingen suchten. Er hat sie weitgehend zurückgewiesen oder in die Ecke gedrängt. Seine Religion ist die Religion des Lebens, eine Religion der Erde und der irdischen Menschheit, ein Ideal intellektuellen Wachstums, vitaler Wirksamkeit, physischer Gesundheit und Freude, eine rationale Gesellschaftsordnung. Wenn dieser Verstand der indischen Kultur konfrontiert wird, so fühlt er sich sogleich zurückgestoßen, erstens aufgrund deren Fremdheit und Ungewöhnlichem, dann aufgrund eines Gefühls irrationaler Abnormität, totaler Verschiedenheit und oft eines diametralen Gegensatzes von Standpunkten, schließlich einer Überfülle von unbegreiflichen Formen. Seinem Auge scheinen diese Formen voll des Übernatürlichen zu sein und deswegen, so meint er, voll des Verkehrten. Selbst das Unnatürliche ist vorhanden, ein ständiges Abweichen von der gemeinen Norm, von rechter Methode und gesundem Mittel, ein Rahmen von Dingen, in dem alles, um Chestertons Ausdruck zu gebrauchen, die falsche Form hat. Der alte orthodoxe christliche Standpunkt mag diese Kultur als ein Höllenwerk betrachten, eine anomale Schöpfung von Dämonen. Der moderne orthodoxe rationalistische Standpunkt betrachtet sie als einen Alptraum, der nicht nur irrational, sondern anti rational ist, ein monströses Gebilde, eine altmodische Anomalie, im besten Fall als eine bunte Phantasie der orientalischen Vergangenheit. Dies ist ohne Zweifel eine extreme Haltung – es ist die von Archer – aber Mangel an Verständnis und Geschmack sind die Regel. Man findet ständig Spuren dieser Gefühles selbst bei Personen, die zu verstehen und zu sympathisieren suchen; aber dem durchschnittlichen Westmenschen, der sich mit seinen ersten unreifen natürlichen Eindrücken zufrieden gibt, ist alles eine abstoßende Konfusion. Indische Philosophie ist ein unbegreifliches, subtil-substanzloses Hirngespinst; indische Religion übersetzt sich seinem Auge als Mischung von absurdem Asketentum und einem noch absurderen ungeschliffenen, unmoralischen und abergläubischen Polytheismus. Er sieht in der indischen Kunst eine Orgie grob entstellter oder konventioneller Formen und ein unmögliches Suchen nach Andeutungen des Unendlichen – wohingegen alle wahre Kunst eine schöne und rationale Reproduktion oder feine schöpferische Repräsentation des Natürlichen und Endlichen sein sollte. Er verdammt in der indischen Gesellschaft das Überleben von anachronistischen Gedanken und halbbarbarischen Institutionen der alten Welt und des Mittelalters. Diese Betrachtungsweise, die in jüngerer Zeit einen Wandel durchmachte und sich jetzt weniger laut und selbstsicher artikuliert, aber immer noch existiert, ist die ganze Grundlage von Archers Philippika.
Dies wird deutlich aus der Art der Einwände, die er gegen die indische Zivilisation vorbringt. Wenn man sie ihrer journalistischen Rhetorik beraubt, so entdeckt man, daß sie schlicht hinauslaufen auf diese natürliche Polarität des rationalisierten vitalen und praktischen Menschen gegenüber einer Kultur, die den Verstand einer über rationalen Spiritualität unterordnet und Leben und Handeln einem Erahnen von etwas unterstellt, das größer als Leben und Handeln ist, Philosophie und Religion sind die Seele der indischen Kultur, untrennbar voneinander und sich wechselseitig durchdringend. Das ganze Ziel der indischen Philosophie, ihre gesamte raisondetre, ist Erkenntnis des Geistes, seine Erfahrung und der rechte Weg zu einem spirituellen Leben; ihr einziges Ziel fällt zusammen mit der höchsten Bedeutung von Religion. Die indische Religion entnimmt all ihren charakteristischen Wert der spirituellen Philosophie, die ihr höchstes Sehnen anregt und selbst den größten Teil von dem beeinflusst, was einer niederen Ebene religiöser Erfahrung entnommen ist. Aber welches sind Archers Einwände, zunächst gegen die indische Philosophie? Sein erster Einwand läuft schlicht darauf hinaus, daß sie zu philosophisch sei. Sein zweiter Anklagepunkt ist, daß sie selbst als jenes wertlose Ding, als metaphysische Philosophie, zu metaphysisch sei. Sein dritter Punkt, der stärkste und plausibelste, ist der, daß sie die Persönlichkeit und die Willenskraft schwäche und zerstöre durch falsche Konzepte von Pessimismus, Asketentum, Karma und Wiedergeburt. Wenn wir seine Kritik unter jeder dieser Rubriken prüfen, so werden wir sehen, daß es sich nicht wirklich um eine unvoreingenommene intellektuelle Kritik handelt, sondern um die übertriebene Äußerung einer mentalen Abneigung und einen fundamentalen Unterschied von Temperament und Standpunkt.
Archer kann nicht leugnen – eine solche Leugnung übersteige selbst seine unübertroffene Fähigkeit zu Ungereimtheiten –, daß das indische Mental eine beispiellose Aktivität und Fruchtbarkeit im philosophischen Denken an den Tag gelegt hat. Er kann nicht leugnen, daß Vertrautheit mit metaphysicschen Konzepten und die Fähigkeit, ein metaphysisches Problem mit einigem Feinsinn zu erläutern, in Indien sehr viel weiter verbreitet ist als in jedem anderen Land. Selbst der gewöhnliche Intellekt kann Fragen dieser Art verstehen und handhaben, während ein westliches Mental von entsprechender Kultur und Ausbildung ebenso hoffnungslos verloren wäre, wie es bei Mr. Archer auf diesen Seiten der Fall ist. Aber er bestreitet, daß diese Vertrautheit und dieser Feinsinn ein Beweis für große mentale Kapazität wären – notwendigerweise, fügt er hinzu, ich nehme an, um dem Vorwurf auszuweichen, er habe damit gesagt, Plato, Spinoza oder Berkeley hätten Keine große mentale Begabung zuzuweisen. Vielleicht ist es nicht notwendigerweise ein solcher Beweis; aber es zeigt sehr wohl in einer großen Rangordnung von Fragen, in einem weiten und besonders schwierigen Bereich der mentalen Kräfte und Interessen eine bemerkenswerte und einzigartige allgemeine Entwicklung. Die Fähigkeit des europäischen Journalisten, mit einem gewissen Scharfsinn Fragen von Wirtschaft und Politik, oder Kunst, Literatur und Drama zu erörtern; ist nicht notwendigerweise Beweis für große mentale Fähigkeit; sie zeigt aber sehr wohl eine große Entwicklung der europäischen Mentalität im allgemeinen, eine umfassende Information und normale Fähigkeit in diesen Bereichen ihrer Tätigkeit. Die Unreife ihrer Meinungen und der Behandlung ihrer Themen mag einem Außenstehenden gelegentlich etwas barbarisch erscheinen; aber die Sache selbst ist ein Beweis, daß eine Kultur gegeben ist, eine Zivilisation, große intellektuelle und bürgerliche Leistungen und ein hinreichend verbreitetes Interesse daran. Archer muß eine ähnliche Schlussfolgerung in einem anderen subtileren und schwierigeren Bereich bezüglich Indien vermeiden. Er tut dies, indem er bestreitet, daß Philosophie irgendeinen Wert habe. Diese Tätigkeit des indischen Mentals ist für ihn nur ein beispielloser Fleiß im Erkennen des Unerkennbaren und Denken über das Undenkbare. Und warum dies? Nun, weil die Philosophie von einer Region handelt, für die es keinen möglichen Wertetest gebe und weil in einer solchen Region das Denken selbst, da es bloß nicht beweisbare Spekulation sei, von wenig oder keinem Wert ist.
Hier gelangen wir zu einem wirklich interessanten und charakteristischen Gegensatz von Standpunkten, mehr noch, zu einem Unterschied im Wesen der Mentalität. Wie bereits erwähnt, ist es das skeptische Argument des Atheisten und Agnostikers, aber schließlich und endlich ist dies nur der extreme logische Ausdruck einer Haltung, die der durchschnittlichen europäischen Denkweise gemein ist, die eine positivistische Haltung ist. Philosophie wurde in Europa mit großen und vortrefflichen intellektuellen Resultaten von den größten Denkern betrieben, aber weitgehend als eine vom Leben gesonderte Tätigkeit, eine hohe und brillante, jedoch wirksame Angelegenheit. Es ist bemerkenswert, daß während Philosophie in Indien und China Einfluß auf das Leben, eine gewaltige praktische Einwirkung auf die Zivilisation genommen hat und dem jeweiligen aktuellen Denken und Handeln förmlich einverleibt wurde, sie diese Bedeutung in Europa nie zu erlangen vermochte. Zur Zeit der Stoiker und Epikuräer gewann sie Einfluß, jedoch nur in der kulturellen Oberschicht. Auch in der Gegenwart haben wir eine erneute Tendenz dieser Art. Nietzsche hatte Einfluss, auch gewisse Denker in Frankreich, und die Philosophien von James und Bergson erregten ein gewisses öffentliches Interesse. Aber dies ist nichts im Vergleich zur
Wirkkraft der asiatischen Philosophie. Der durchschnittliche Europäer entnimmt seine Hauptanschauungen nicht der philosophischen, sondern der empirischen und praktischen Vernunft. Er verachtet nicht die Philosophie schlechterdings wie Archer, aber er betrachtet sie, wenn auch nicht als vom Menschen gemachte Illusion so doch als eine recht tabulose ferne und wirkungslose Art von Tätigkeit. Er ehrt die Philosophen, stellt aber ihre Werke auf das höchste Bücherbord der Bibliothek der Zivilisation, wo sie nur von einigen wenigen außergewöhnlichen Denkern herunterzunehmen und zu konsultieren sind. Er bewundert sie, misstraut ihnen jedoch. Platos Gedanke von Philosophen als den rechten Herrschern und besten Führern der Gesellschaft erscheint ihm als eine äußerst phantastische und unpraktische Vorstellung. Der Philosoph müsse genau deshalb, weil er sich unter Ideen bewegt, ohne jeden Einfluß auf das wirkliche Leben bleiben. Das indische Bewusstsein geht hingegen davon aus, daß der Rishi, der Denker, der Seher spiritueller Wahrheit der beste Wegweiser nicht nur im religiösen und sittlichen, sondern auch im praktischen Leben ist. Der Seher, der Rishi ist der natürliche Führer der Gesellschaft; den Rishis schreibt der Inder die Ideale und führenden Intuitionen seiner Zivilisation zu. Selbst heute ist er bereit, diese Bezeichnung jedem zu geben, der eine spirituelle Wahrheit vermitteln kann, die seinem Leben hilft, oder eine konstruktive Idee und Inspiration, die Religion, Ethik, Gesellschaft, selbst Politik beeinflusst.
Der Grund dafür ist, daß der Inder glaubt, die letzten Wahrheiten seien Wahrheiten des Geistes, und die Wahrheiten des Geistes seien die fundamentalsten und wirksamsten Wahrheiten unseres Lebens, stark schöpferisch für das innere, heilsam reformierend für das äußere Leben. Dem Europäer sind die letzten Wahrheiten häufiger Wahrheiten des begriffsbildenden Intellekts, der reinen Vernunft; aber ganz gleich, ob intellektuell oder spirituell, sie gehören einer Sphäre jenseits der gewöhnlichen Funktion von Mental, Leben und Körper an, wo es allein tägliche verifizierende Wertetests gibt. Diese Tests können nur durch lebendige Erfahrung äußerer Tatsachen und durch die empirische und praktische Vernunft vollzogen werden. Alles übrige sich ihm Spekulationen, und ihr rechter Platz ist in der Welt der Ideen, nicht in der Welt des Lebens. Dies führt uns zu einem Unterschied des Standpunktes, der die Substanz von Archers zweitem Einwand bildet. Er glaubt, daß alle Philosophie Spekulation und Mutmaßung sei. Die einzige nachweisbare Wahrheit, so müssen wir dann annehmen, ist die der normalen Tatsache, die äußere Welt und unsere Reaktion darauf, die Wahrheit der Naturwissenschaft sowie eine Psychologie, die sich auf Naturwissenschaft gründet. Er tadelt die indische Philosophie dafür, daß sie ihre Spekulationen ernst genommen hat, daß sie Spekulation verkleidet als Dogma präsentiert, sowie auch für die unspirituelle Gewohnheit, die Suchen mit Schauen und Mutmaßung mit Wissen verwechselt, - anstelle der sehr spirituellen Gewohnheit, so vermute ich, die das physisch Fühlbare für das einzig Erkennbare hält und die Erkenntnis des Körpers für die Erkenntnis von Seele und Geist nimmt. Mit bitterem Sarkasmus zieht er über die Auffassung her, daß philosophische Meditation und Yoga der Beste Weg seien, um die Wahrheit der Natur und die Strkas des Universums zu ergründen. Archers Beschreibungen der indischen Philosophie sind eine aus grober Unwissenheit geborene Fehldarstellung ihres Konzepts und Geistes, aber in ihrem Wesen repräsentieren sie die Anschauung, der das normale positivistische Mental des Westens folgt.
Tatsächlich verabscheut indische Philosophie bloße Mutmaßung und Spekulation. Dieses Wort wird ständig von europäischen Kritikern mit Hinblick auf die Gedanken und Schlussfolgerungen der Upanischaden, der philosophischen Systeme und des Buddhismus verwandt. Indische Philosophen würden es als eine keineswegs gültige Beschreibung ihrer Methode strikt zurückweisen. Wenn unsere Philosophie auch ein letztlich Undenkbares und Unerkennbares zulässt, so beschäftigt sie sich doch nicht mit irgendeiner empirischen Beschreibung oder Analyse jenes höchsten Mysteriums, - die Ungereimtheit, die der Rationalist ihr vorhält. Es geht ihr um alles, was denkbar und erkennbar für uns ist, auf der höchsten Stufe, ebenso wie in den niederen Bereichen unserer Erfahrung. Wenn sie in der Lage war, ihre Schlussfolgerungen zu religiösen Glaubensartikeln zu machen – Dogmen, wie man sie hier nennt –, so deshalb, weil sie auf einer Erfahrung zu gründen vermochte, die jeder nachvollziehen kann, der die notwendigen Mittel einsetzt und die einzig möglichen Tests vornimmt. Das indische Mental gesteht nicht zu, daß der einzig mögliche Wertetest oder Realitätstest der äußere naturwissenschaftliche sei, der Test einer gründlichen Prüfung der physischen Natur oder der alltäglichen normalen Tatsachen unserer Oberflächenpsychologie, was nur eine kleine Bewegung auf weiten verborgenen unterbewussten und überbewußten Höhen, Tiefen und Weiten ist. Welches sind die Prüfsteine für diese mehr gewöhnlichen oder objektiven Werte? Offenbar Erfahrung, experimentelle Analyes und Synthese, Verstand, Intuition; denn ich denken, der Wert der Intuition wird heutzutage von der modernen Philosophie und Naturwissenschaft eingestanden. Die Prüfsteine dieser anderen, subtileren Ordnung von Wahrheiten sind dieselben: Erfahrung, experimentelle Analyse und Synthese, Verstand und Intuition. Da diese jedoch Wahrheiten der Seele und des Geistes sind, muß es sich nur notwendigerweise um eine psychologische und spirituelle Erfahrung handeln, ein psychologisches und psychophysisches Experimentieren, Analyse und Synthese, eine höhere Intuition, die in höhere Bereiche, Realitäten, Möglichkeiten des Seins blickt, eine Vernunft, die etwas jenseits ihrer selbst zulässt, zum Überrationalen aufblickt und soweit wie möglich der menschlichen Intelligenz Bericht davon erstattet. Yoga, zu dessen Verzicht Mr. Archer uns so dringend auffordert, ist in sich selbst nichts anderes als ein erprobtes Mittel zu Öffnung dieser größeren Erfahrungsbereiche. Von Mr. Archer und Menschen seiner Art kann man nicht erwarten, daß sie von diesen Dingen wissen. Sie liegen jenseits des kleinen engen Bereiches von Fakten und Ideen, der für sie den ganzen Radius der Erkenntnis umfaßt. Aber selbst wenn er das Wissen hätte, würde es keinen Unterschied für ihn bedeuten. Er würde schon den bloßen Gedanken mit spöttischer Ungeduld zurückweisen, ohne seine eigene gewaltige rationalistische Überlegenheit durch Ergründen der Möglichkeit einer nicht vertrauten Wahrheit herabzuwürdigen. Bei dieser Haltung hätte er den durchschnittlichen positivistischen Geist auf seiner Seite. Jenem Verstand erscheinen solche Vorstellungen schon ihrer Natur nach absurd und unbegreiflich, - viel schlimmer noch als Griechisch und Hebräisch, Sprachen, die sehr angesehene und vertrauenswürdige Professoren haben; aber diese sind Hieroglyphen, die nur von Indern, Theosophen und mystischen Denkern, einer anrüchigen Sippe, als dechiffriere Zeichen gewürdigt werden können. Er kann Dogma und Spekulation über spirituelle Wahrheit verstehen, einen Priester, eine Bibel, ganz gleich, ob er sie anzweifelt oder konventionell akzeptiert; aber nachweisbare tiefste spirituelle Wahrheit, sicher zu ermittelnde spirituelle Werte! Dieser Gedanke ist jener Mentalität fremd und klingt ihr wie ein Jargon. Er kann eine autoritative Religion verstehen – selbst wenn er sie zurückweist –, ein ich glaube, weil es rational unmöglich ist. Aber ein tiefstes Mysterium der Religion, eine höchste Wahrheit philosophischen Denkens, eine weiteste letzte Entdeckung psychologischer Erfahrung, ein systematisches und geordnetes Experimentieren der Selbstsuche und Selbstanalyse, eine konstruktive innere Möglichkeit der Selbstvervollkommnung, welche alle zum selben Resultat gelangen und wechselseitig ihren jeweiligen Schlussfolgerungen beipflichten, wobei sie Geist und Vernunft und die gesamte psychologische Natur und ihre tiefsten Erfordernisse aussöhnen, - dieses große und ständige Suchen und Triumphieren der indischen Kultur verblüfft und verärgert den durchschnittlichen positivistischen Verstand des Westens. Es verwirrt ihn der Besitz eines Wissens, nach dem der Westen sich stets nur vortastete und das ihm am Ende entging. Irritiert, verwirrt und verächtlich weigert er sich, die Überlegenheit einer solchen Harmonie gegenüber seiner eigenen niederen, in sich selbstzerteilten Kultur anzuerkennen. Denn er ist nur an ein religiöses Suchen und eine religiöse Erfahrung gewöhnt, die sich mit Naturwissenschaft und Philosophie im Streit befindet oder zwischen irrationalem Glauben und einem geplagten oder einem selbstsicheren Skeptizismus schwankt. In Europa war Philosophie gelegentlich die Dienerin – nicht die Schwester – der Religion. Häufiger noch hat sie religiösem Glauben in Feindschaft oder verächtlicher Trennung den Rücken gekehrt. Der Krieg zwischen Religion und Naturwissenschaft war fast das herausragende Phänomen europäischer Kultur. Selbst Philosophie und Naturwissenschaft konnten nicht zu Einigkeit gelangen; auch sie stritten und trennten sich. Diese Kräfte koexistieren noch in Europa, aber sie sind keine glückliche Familie; Bürgerkrieg ist ihre natürliche Atmosphäre.
Es nimmt nicht Wunder, wenn sich das positivistische Mental, für das dies die natürliche Ordnung der Dinge zu sein scheint, von einer Denk- und Erkenntnisweise abwendet, in der Harmonie, Konsensus, Einigkeit zwischen Philosophie und Religion besteht, ebenso wie eine systematisierte, gut erprobte psychologische Erfahrung. Es läßt sich leicht dazu bringen, der Herausforderung dieser fremden Form von Wissen zu entgehen, indem der indische Psychologie bereitwillig als Dschungel selbst hypnotisierender Halluzinationen, indische Religion als üppigen Auswuchs anti-rationalen Aberglaubens, indische Philosophie als ein fernes Wolkenland substanzloser Spekulation zurückweist. Dabei ist verhängnisvoll für den geistigen Frieden, den diese selbstzufriedene Haltung mit sich bringt, und für die Wirkung von Archers geschickter aber verheerender Methode der Kritik, daß auch der Westen in jüngster Zeit auf Pfade des Denkens und der Entdeckung gestoßen, wurde, die die Wahrscheinlichkeit gefährlich nahe bringen, daß all diese Masse unerfreulicher Barbarei gerechtfertigt wird und Europa selbst einer so monströsen Denkweise näher rückt. Denn es wird immer deutlicher, die indische Philosophie hat auf ihre Weise den größten Teil von dem vorweggenommen, was in metaphysischer Spekulation erdacht wurde oder erdacht wird. Man findet, daß selbst das naturwissenschaftliche Denken sehr alte indische allgemeine Thesen vom anderen Ende der Forschungsskala wiederholt. Indische Psychologie, die Archer zugleich mit indischer Kosmologie und Physiologie als unbegründete Klassifizierung und erfinderische Mutmaßung zurückweist – sie ist alles andere als das, denn sie ist rigoros auf Erfahrung gegründet –, findet mehr und mehr Bestätigung in den jüngsten psychologischen Entdeckungen. Die Grundvorstellungen der indischen Religion scheinen einem Triumph gefährlich nahe, durch den sie zum herausragenden Denken und Empfinden einer neuen und universalen religiösen Mentalität und spirituellen Suche würden. Wer könnte denn behaupten, daß die Psyche-Physiologie des indischen Yoga nicht Bestätigung finden wird, wenn gewisse Ansätze des Suchens und Mutmaßens im Westen ein wenig weiter vorangetrieben werden? Vielleicht wird sogar die indische kosmologische Vorstellung, daß es andere Seinsebenen gibt als dieses leicht wahrnehmbare Königreich der Materie, in einer nicht sehr fernen Zukunft rehabilitiert! Aber das positivistische Mental kann einstweilen noch guten Mutes sein; denn sein Einfluss ist noch stark, und es erhebt noch den Anspruch auf intellektuelle Orthodoxie und das Prestige des Besitzrechtes. Viele Ströme müssen anschwellen und zusammenfließen, bevor es überspült wird und eine Flutwelle einigenden Denkens die Menschheit zu den verborgenen Ufern des Geistes trägt.
Diese Kritik ist insoweit nicht sehr erschütternd; ihre Schärft, sofern sie irgendeine außer derjenigen flagrante Fehldarstellung hat, richtet sich gegen den Angreifer selbst. Wenn der Philosophie ein hoher Wert beigemessen wurde, wenn durch sie die höchsten Geheimnisse unseres Wesens erforscht wurden, ein philosophisches Denken wirksam auf das Leben gerichtet war und die Denker, die Menschen tiefster spiritueller Erfahrung, höchster Ideen, weitesten verfügbaren Wissens herangezogen wurden, um die Gesellschaft zu lenken und zu formen, wenn Bekenntnis und Dogma dem Test philosophischen Denkens unterworfen wurden und religiöser Glaube sich auf spirituelle Intuition gründete, so sind dies Zeichen von Barbarei oder einer unbedeutenden und unwissenden Kultur, sondern Merkmale des höchstmöglichen Typus von Zivilisation. Es gibt hier nichts, was rechtfertigen würde, daß wir uns von den Idolen der positivistischen Vernunft erniedrigen oder den Geist und das Ziel der indischen Kultur überhaupt niedriger ansetzen als den Geist und des Ziel westlicher Zivilisation, ob in ihrer hohen älteren Zeit rationaler Aufklärung und spekulativen Denkens oder in ihrer modernen Zeit weiten und präzisen wissenschaftlichen Denkens und wirksam angewandten Wissens. Sie ist anders, nicht unterlegen, sie hat vielmehr ein deutliches Element der Überlegenheit in der einzigartigen Qualität ihres Motivs und der hohen spirituellen Gesinnung ihres Bemühens.
Es ist von Nutzen, diese Größe von Geist und Ziel herauszuheben, nicht nur, weil sie von erheblicher Bedeutung ist und den ersten Prüfstein für den Wert einer Kultur bildet, sondern weil die Angreifer zwei äußerliche Umstände für sich nutzen, um ein Vorurteil zu schaffen und Unklarheit in die wirklichen Fragen zu bringen. Sie haben den gewaltigen Vorteil, Indien zu einer Zeit anzugreifen, da es im Staub liegt, die indische Zivilisation materiell eine Niederlage, ja ihren Zusammenbruch erlitten zu haben scheint. Indem sie aus diesem vorübergehenden Vorteil Kraft ziehen, können sie es sich erlauben, großartig und großzügig Mut zur Schau zu stellen, indem sie den umliegenden Staub und Schlamm mit ihren Hufen auf die kranke und verwundete Löwin sprengen, die in den Netzen der Jäger hängt, und die Welt zu überzeugen versuchen, daß die Löwin nie irgendwelche Kraft und Tugend in sich hatte. Jenes ist eine leichte Aufgabe in diesem Zeitalter der edlen Kultur der Vernunft, des Mammon und der Naturwissenschaft im Dienste des Molochs, einem Zeitalter, in dem das eherne Idol der großen Göttin Erfolg wie nie zuvor von kultivierten Menschen angebetet wird. Aber sie haben ebenfalls den noch größeren Triumph, Indien der Welt zu einer Zeit des Niedergangs seiner Zivilisation zu präsentieren, wo es nach mindestens zweitausend Jahren der brillantesten und vielseitigsten kulturellen Aktivität für einer Zeitlang alles verlor außer der Erinnerung an seine Vergangenheit und seinen lange niedergedrückten und verdunkelten, aber stets lebendigen und jetzt stark wiederauflebenden religiösen Geist.
Ich kam an anderer Stelle auf die Bedeutung dieses Versagens und vorübergehenden Niedergangs zu sprechen. Vielleicht ist es notwendig, daß ich mich noch näher damit befasse, da dieser Punkt als Einwand gegen den Wert indischer Kultur und indischer Spiritualität erhoben wurde. Im Moment wird es genügen zu sagen, daß sich Kultur nicht an materiellem Erfolg messen läßt; noch weniger eignet sich Spiritualität für jenen Prüfstein. Das philosophische, ästhetische, poetische, intellektuelle Griechenland versagte und fiel, während das gedrillte und militaristische Rom triumphierte und siegte, aber niemand würde deshalb auch nur im Traum dem siegreichen Imperium eine größere Zivilisation und höhere Kultur zuschreiben. Die religiöse Kultur Judäas wird nicht mehr widerlegt oder in ihrem Wert gemindert durch die Zerstörung des jüdischen Staates, als sie umgekehrt bewiesen wird und größeren Wert erhält durch die kommerzielle Fähigkeit, die das jüdische Volk in der Diaspora an den Tag legte. Aber ich räume ein, wie das alte indische Denken es tat, daß materielle und wirtschaftliche Begabung und Prosperität ein notwendiger, obgleich nicht der höchste oder wesentlichste Teil der Gesamtanstrengung einer menschlichen Zivilisation sind. In dieser Hinsicht kann Indien über die lange Periode seiner kulturellen Aktivität Ebenbürtigkeit mit jedem alten oder mittelalterlichen Land beanspruchen. Kein Volk erreichte vor der modernen Zeit eine größere Blüte von Reichtum, kommerziellem Wohlstand, materieller Ausstattung, gesellschaftlicher Organisation. Dies ist erwiesen durch Geschichte, alte Dokumente, zeitgenössische Zeugen; sie zu verleugnen, zeugt von einer einzigartigen Voreingenommenheit und Verdunkelung der Schau, liest phantasievoll – oder ist es phantasielos? – fälschlicherweise gegenwärtige Aktualität in vergangene Wirklichkeit hinein. Der Glanz asiatischen und nicht am wenigsten indischen Wohlstands, die Reichtümer von Ormuz und von Indien, die barbarischen Tore dick besetzt mit Gold barbaricae postes squalentes auro, wurden dereinst vom weniger opulenten Westen als ein Zeichen von Barbarei gebrandmarkt. Die Umstände haben jetzt eine seltsame Wende genommen: Die opulente Barbarei und eine viel weniger künstlerische Zurschaustellung von Reichtum finden sich in London, New York und Paris, während seine Mittellosigkeit und das Elend seiner Armut Indien als Beweis für die Wertlosigkeit seiner Kultur an den Kopf geworfen werden.
Indiens alte und mittelalterliche politische, administrative, militärische und ökonomische Organisation war keine geringe Errungenschaft; diese historische Tatsache bleibt bestehen, und man kann es ihr überlassen, die Unwissenheit des Ungeschulten und die Rhetorik des kritischen Journalisten oder parteiischen Politikers zu widerlegen. Ohne Zweifel gab es ein Element des Versagens und Mangels, was fast unvermeidlich ist in der Gesamtheit eines Problems in so großem Rahmen und unter den damaligen Bedingungen. Wollte man dies aber überbewerten und zu einem Anklage-Punkt gegen Indiens Zivilisation machen, so wäre das eine unvergleichlich strenge Kritik, der nur wenige Zivilisationen standhalten könnten, wenn man ihre Gang bis zum Ende verfolgt. Versagen am Schluss, gewiss, wegen des Niedergangs seiner Kultur, aber nicht als Resultat seiner wertvollsten Elemente. Eine spätere Verdunkelung der wesentlicheren Bestandteile seiner Zivilisation widerlegt nicht deren ursprünglichen Wert. Die indische Zivilisation ist hauptsächlich an der Kultur und Größe ihrer Jahrtausende zu messen, nicht an der Unwissenheit und Schwäche einiger Jahrhunderte. Eine Kultur ist zu messen erstens an ihrem wesenhaften Geist, dann an ihren besten Leistungen und schließlich an ihrer Kraft, zu überleben, zu erneuern und sich anzupassen an neue Phasen der ständigen Bedürfnisse der Menschen. In Armut, Konfusion und Zerrüttung einer Periode vorüber-gehenden Niedergangs weigert sich das Auge des feindseligen Kritikers, die rettende Seele des Guten zu sehen oder zur Kenntnis zu nehmen, die diese Zivilisation immer noch am Leben hält und eine starke und lebendige Rückkehr zu ihrem ständigen Ideal verheißt. Ihre hartnäckig elastische Fähigkeit zu Erneuerung, ihr altes grenzenloses Anpassungsvermögen sind wieder aktiv; sie befindet sich nicht einmal mehr nur in der Defensive, sondern geht selbstsicher zum Angriff über. Nicht bloß Überleben, sondern Sieg und Eroberung sind die Verheißung ihrer Zukunft.
Aber unser Kritiker leugnet nicht lediglich das edle Ziel und die Größe des Geistes der indischen Zivilisation, die zu hoch stehen, um einem Angriff dieser unwissenden und voreingenommenen Art eine Blöße zu bieten. Er stellt ihre Leitgedanken in Frage, verleugnet ihren praktischen Wert fürs Leben, diskreditiert ihre Früchte, ihre Wirksamkeit, ihren Charakter. Hat diese Diskreditierung irgendeinen kritischen Wert, oder ist es nur ein durch das Temperament bedingter Ausdruck des Missverstehen, das gegenüber einer ganz anderen Lebensanschauung und einer diametral entgegengesetzten Bewertung der höchsten Sinngehalte und Realitäten unserer Art nur natürlich ist? Wenn wir den Charakter der Attacke und ihre Formen betrachten, werden wir sehen, daß sie auf nichts mehr hinausläuft als auf Verdammung, ausgesprochen vom positivistischen Geist, der an den normalen Lebenswerten hängt, über die ganz andersartigen Wertnormen einer Kultur, die über das gewöhnliche Leben des Menschen hinaus blickt, auf etwas Größeres hinter ihm hinweist und es zu einem Durchgang zu etwas Ewigen, Dauerhaften und Unendlichen macht. Indien, so wird uns mitgeteilt, habe keine Spiritualität, - eine ungewöhnliche Entdeckung! Vielmehr ist es ihm gelungen, so möchte es scheinen, die Keime aller gesunden und kräftigen Spiritualität zu töten. Archer gibt dem Wort offenbar seinen eigenen Sinn, einen neuen, interessanten und sehr westlichen Sinn. Spiritualität bedeutete bislang eine Anerkennung von etwas Größerem als mentalem Geist und Leben, die Sehnsucht nach einem Bewusstsein, das rein, groß und göttlich ist, jenseits unserer normalen mentalen und vitalen Natur, ein Aufstreben der Seele im Menschen, heraus aus der Kleinheit und Gebundenheit unserer niederen Teile zu einer größeren Sache hin, die in ihm verborgen liegt. Dies zumindest ist die Idee, die Erfahrung, die den ureigentlichen Kern des indischen Denkens bildet. Aber der Rationalist glaubt nicht an den Geist in diesem Sinn. Leben, menschliche Willenskraft und Vernunft sind seine höchsten Gottheiten. Der Spiritualität – es wäre einfacher und logischer, gewesen, das Wort zurückzuweisen, wenn die Sache, auf der sie beruht, bestritten wird – muß dann eine andere Bedeutung gegeben werden, d.h. eine hohe Leidenschaft und Anstrengung der Emotionen, das Willens und der Vernunft, die auf das  Endliche gerichtet sind, nicht auf das Unendliche, auf vergängliche Dinge, nicht auf das Ewige, auf sterbliches Leben, nicht auf eine höhere Realität, die die oberflächlichen Erscheinungen des Lebens übersteigt und ihnen zugrunde liegt. Im Denken und Leiden, die das ideale Antlitz Homers säumen und zerfurchen, dort, so wird uns mitgeteilt, liege die gesunden, männliche Spiritualität. Die Stille und das Mitgefühl des Buddha, der siegreich ist  über Unwissenheit und Leiden, die Meditation des Denkers, der in Trance Zwiesprache mit dem Ewigen hält, über das Suchen des Denkens hinausgehoben in eine Identität mit höchstem Licht, die ekstatische Freude des Heiligen, der durch Liebe, im reinen Herzen eins ist mit der transzendenten und universalen Liebe, der Wille des Karmayogin, der über egoistisches Begehren und Leidenschaft hinausgehoben ist in die Unpersönlichkeit des göttlichen und universalen Willens, diese Dinge, denen Indien den höchsten Wert gegeben hat und welche die große Bestrebung seiner bedeutendsten Persönlichkeiten waren, sie sind nicht gesund, nicht maskulin. Dies, so mag uns erlaubt sein zu sagen, ist eine sehr westliche und moderne Auffassung von Spiritualität. Homer, Shakespeare, Raphael, Spinoza, Kant, Karl der Große, Abraham Lincoln, Lenin, Mussolini, sie alle – so könnten wir vorschlagen, sollen hinfort nicht nur als große Dichter, Künstler oder Helden von Gedanken und Tat gelten, sondern als unsere Vorbilder und Beispiele der Spiritualität, und nicht Buddha, Christus, Chaitanya, der Heilige Franziskus, Ramakrishna; sie sind entweder halb barbarische Orientalen oder in Mitleidenschaft gezogen von dem femininen Wahn einer orientalischen Religion. Der Eindruck, der bei einem Inder hervorgerufen wird, ähnelt der Reaktion, die ein kultivierter Intellektueller haben könnte, wenn man ihm sagte, daß gutes Kochen, gutes Ankleiden, gutes Bauen, gutes Unterrichten die wahre Schönheit seien und die Beschäftigung damit der rechte, gesunde, männliche ästhetische Kult, während Literatur, Akulptur und Malerei nur nutzlose Papierkritzelei seien, ein sinnloses Steinklopfen und verweichlichtes Leinwandbespritzen. Vauban, Dr. Parr, Vatal und Beau Brummel sind dann die wahren Helden künstlerischer Schöpfung und nicht Leonardo da Vinci, Michelangelo, Sophokles, Dante, Shakespeare oder Rodin. Ob Archers Epithete und Anklagen gegen die indische Spiritualität diesen Vergleich aushalten, mögen die Weisen entscheiden. Indessen sehen wir den Gegensatz der Standpunkte und beginnen, die innere Natur des Unterschiedes zwischen dem Westen und Indien zu verstehen.
Dies ist der Angriffspunkt der Anklage gegen den praktischen Wert in indischer Philosophie, daß sie sich vom Leben, der Natur, dem vitalen Willen und der persönlichen. Anstrengung des Menschen auf der Erde abwende. Sie leugne allen Wert am Leben. Sie führe nicht hin zum Studium der Natur, sondern weg von ihm. Sie verbanne alle Willensindividualität. Sie predige die Unwirklichkeit der Welt, die Loslösung von irdischen Interessen, die Unwichtigkeit des Augenblickslebens im Vergleich zur endlosen Kette der vergangenen und zukünftigen Existenzen. Sie sei eine entkräftende Metaphysik, verwickelt in falsche Vorstellungen von Pessimismus, Asketentum, Karma und Reinkarnation, - alles Gedanken, die von fataler Konsequenz für jenes höchste spirituelle Gut sind, die Willensindividualität. Dies ist eine grotesk übertriebene und falsche Vorstellung von indischer Kultur und Philosophie, zuwegegebracht dadurch, daß nur eine Seite des indischen Geistes präsentiert wird in Farben einer düsteren Tönung, in einem Stil, den Archer wohl der modernen meistern des Realismus entlehnt hat. Aber in Substanz und Geist ist es eine recht korrekte Darlegung der Vorstellungen, die der europäische Verstand sich in der Vergangenheit von dem Charakter indischen Denkens und indischer Kultur gebildet hat, manchmal aus Unwissenheit, manchmal gegen besseres Wissen. Eine Zeitlage gelang es ihm sogar, einen starken Schatten dieses Irrtums auf den Verstand kultivierter Inder zu werfen. Am besten beginnt man damit, daß man die Farbtöne des Bildes korrigiert; sobald das geschehen ist, können wir besser den Widerstand von Mentalität beurteilen, der Wurzel der Kritik liegt.
Wenn man sagt, daß die indische Philosophie vom Studium der Natur hinweggeführt habe, so heißt dies, daß man eine Nicht-Tatsache konstatiert und die bemerkenswerte Geschichte der indischen Zivilisation ignoriert. Wenn wir mit Natur physische Natur meinen, so ist die schlichte Wahrheit die, daß keine Nation vor der modernen Zeit wissenschaftliche Forschung so weit vorangetrieben und mit derartig bemerkenswertem Erfolg betrieben hat wie das alte Indien. Dies ist eine Wahrheit, die für jedermann an Indiens Geschichte leicht verifiziert werden kann; sie wurde mit großem Aufwand und reichem Detail von hervorragenden indischen Gelehrten und Wissenschaftlern herausgearbeitet, bereits gewusst und anerkannt von europäischen Gelehrten, die sich die Mühe gemacht hatten, eine vergleichende Studie dieses Gegenstands zu unternehmen. Nicht nur in Mathematik, Astronomie, Chemie Medizin, Chirurgie, allen Zweigen physikalischen Wissens, die in alter Zeit praktiziert wurden, befand sich Indien im ersten Glied, sondern es war, zugleich mit den Griechen, Lehrmeister der Araber, von denen Europa die verlorene Gewohnheit wissenschaftlicher Forschung zurückgewann und jene Basis erhielt, von der die moderne Naturwissenschaft ihren Ausgang nahm. Auf vielen Gebieten hat Indien Anspruch auf Erstentdeckung, - wir nennen nur zwei herausragende Beispiele aus einer Vielzahl: das Dezimalsystem in der Mathematik und in der Astronomie die Erkenntnis, daß die Erde ein sich bewegender Körper ist, die Erde bewegt sich, sie steht nur scheinbar still, sagte der indische Astronom viele Jahrhunderte vor Galileo. Diese große Entwicklung wäre kaum möglich gewesen in einer Nation, deren Denker und Gelehrte durch metaphysische Tendenzen vom Studium der Natur weggeführt wurden. Ein bemerkenswertes Charakteristikum des indischen Mentals war die wache Aufmerksamkeit gegenüber den Dingen des Lebens, die Disposition, seine herausragenden Tatsachen präzise zu beobachten, zu systematisieren und für all seine Zweige eine Wissenschaft, Shastra, zu begründen, ein Ordnungssystem zu konzipieren. Dies ist zumindest ein guter Anfang der naturwissenschaftlichen Bestrebung und nicht das Merkmal einer Kultur, die nur zu substanzloser Metaphysik fähig ist.
Es trifft durchaus zu, daß die indische Naturwissenschaft um das 13. Jahr hundert herum abrupt zum Stillstand kam und daß eine Phase der Dunkel heit und Inaktivität sie davon abhielt, weitere Fortschritte zu erzielen oder sogleich an der weiteren modernen Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis Teil zu haben. Aber dies war nicht zurückzuführen auf ein Anwachsen oder eine Unduldsamkeit der metaphysischen Tendenz, die den nationalen Geist von der physischen Natur weggezogen hätte. Es war vielmehr Teil eines allgemeinen Erstarrens neuer intellektueller Tätigkeit, denn auch die Entwicklung der Philosophie kam fast zur selben Zeit zum Stillstand. Die letzten großen originalen Versuche spiritueller Philosophie datieren nur ein oder zwei Jahrhunderte später als die Namen der letzten großen originalen Wissenschaftler. Es trifft auch zu, daß die indische Metaphysik nicht versuchte, wie die moderne Philosophie es ohne Erfolg tat, den Daseinsgrund hauptsächlich durch das Licht der Wahrheiten der physischen Natur zu erfassen. Dieses allte Wissen gründete sich mehr auf innere experimentelle Psychologie und profunde psychische Wissenschaft, Indiens besondere Stärke. Auch Erforschung des Mentals und unserer inneren Kräfte ist sicher Studium der Natur,- hier war Indiens Erfolg größer als in der materiellen Erkenntnis. Dies mußte Indien unausweichlich tun, da es ihm bei seiner Suche um den spirituellen Daseinsgrund ging; auch kann eine wirklich große und dauerhafte Philosophie nur auf dieser Basis möglich sein. Ferner trifft zu, daß die Harmonie, die Indien in seiner Kultur zwischen philosophischer Wahrheit und der Wahrheit von Psychologie und Religion begründete, nicht im selben Grade auf die Wahrheit physischer Natur ausgeweitet wurde; die Naturwissenschaft war zu jener Zeit noch nicht zu den großen universalen Verallgemeinerungen gelangt, die eine solche Synthese ermöglicht hätten, wie es jetzt der Fall ist. Nichtsdestoweniger hatte das indische Mental von Anfang an, schon seit dem Denken der Veden, erkannt, daß dieselben allgemeinen Gesetze und Kräfte im spirituellen, psychologischen und physischen Daseinsbereich gelten. Es entdeckte auch die Allgegenwart des Lebens, erklärte die Evolution der Seele in der Natur, von der Pflanze und dem Tier zur menschlichen Form, legte auf der Basis philosophischer Intuition und spiritueller und psychologischer Erfahrung viele der Wahrheiten dar, die die moderne Wissenschaft ihrerseits durch eigene Erkenntnismethode neu bestätigt. Auch diese Dinge waren nicht das Resultat einer fruchtlosen und leeren Metaphysik, nicht die Erfindungen törichter egozentrischer Träumer.
In gleicher Weise ist es falsch, wenn man sagt, daß indische Kultur allen Wert am Leben leugne, sich von irdischen Interessen loslöse und die Unwichtigkeit des Lebens im Augenblick betont. Wenn man diese europäischen Kommentare liest, könnte man glauben, daß das gesamte indische Denken aus der nihilistischen Schule des Buddhismus und dem monistischen Illusionismus von Shankara bestand und daß alle indische Kunst, Literatur und alles gesellschaftliche Denken nichts anderes waren als die Dokumentierung ihres Widerwillens gegen die Falschheit und Nichtigkeit der Dinge. Wir können aber nicht schlussfolgern, daß diese Dinge, weil sie das ausmachen, was der durchschnittliche Europäer über Indien gehört hat oder was den europäischen Gelehrten am meisten in seinen Gedanken beschäftigt oder beeindruckt, ganz gleich wie groß ihr Einfluß auch gewesen sein mag, die Gesamtheit des indischen Denkens bildeten. Die alte Zivilisation Indiens gründete sich sehr deutlich auf vier Interessen des Menschen: 1. Begehren und Genuss, 2. materielle, wirtschaftliche und andere Ziele und Erfordernisse des Mentals und Körpers, 3. ethisches Verhalten und das rechte Gesetz individuellen und gesellschaftlichen Lebens, und schließlich 4. spirituelle Befreiung: kama, artha, dharma, moksa. Die Aufgabe von Kultur und gesellschaftlicher Organisation war, diese Dinge im Menschen zu lenken, zu befriedigen, zu fördern und eine Harmonie der Formen und Motive heranzubilden. Außer in sehr seltenen Fällen mußte die Erfüllung der drei weltlichen Ziele dem anderen vorangehen; Fülle des Lebens mußte der Überwindung des Lebens vorausgehen. Der Verpflichtung gegenüber der Familie, der Gemeinschaft und den Göttern konnte nicht entronnen werden. Der Erde mußte genüge getan werden und das Ralative sein Spiel haben, selbst wenn es jenseits davon die Herrlichkeit des Himmels oder den Frieden des Absoluten gab. Es wurde nicht gepredigt. Daß alle und jeder in die Höhle und Einsiedelei eilen sollten.
Der symmetrische Charakter des alten indischen Lebens und die lebendige Vielfalt seiner Literatur waren unvereinbar mit irgendeiner ausschließlichen Ausrichtung auf das Jenseitige. Die große Masse der Sanskrit-Literatur ist eine Literatur vom menschlichen Leben. Gewisse philosophische und religiöse Schriften sind dem Rückzug von ihm gewidmet, aber selbst diese verachten in der Regel nicht seinen Wert. Wenn der indische Verstand das größte Gewicht auf spirituelle Befreiung legte – ganz gleich, was die positivistische Einstellung sagen mag, eine spirituelle Befreiung dieser oder jener Art ist die höchste Möglichkeit für den menschlichen Geist –, so war er nicht allein daran interessiert. Er behielt in gleicher Weise die Ethik im Auge, das Recht, Politik, Gesellschaft, die Wissenschaften, Künste und Handwerk, alles was zum menschlichen Leben gehört. Er dachte tief und gründlich über diese Dinge nach und schrieb über sie kraftvoll und kenntnisreich. Welch ein feines Monument politischen und administrativen Genies ist der Sukra-Niti, um nur ein Beispiel zu nennen, und welch ein Spiegel der praktischen Organisation eines großen zivilisierten Volkes! Indische Kunst war nicht immer bloß sakral. Sie schien dies nur zu sein, weil ihre größten Werke in den Tempeln und Höhlenkathedralen überlebten. Wie die alte Literatur bezeugt und wie wir von den Rajput- und Mogul-Gemälden ersehen können, war sie ebenso dem Hof, der Stadt, den kulturellen Vorstellungen und dem Leben des Volkes gewidmet, wie Tempel, Kloster und deren Motiven. Die indische Ausbildung und Erziehung von Frauen ebenso wie von Männern war reicher, umfassender und vielseitiger als jedes andere Erziehungssystem vor der Moderne. Die Dokumente, die diese Dinge beweisen, stehen jetzt jedem zur Verfügung, der sie einsehen möchte. Es ist an der Zeit, daß dieses Papageiengeschwätz vom unpraktischen, metaphysischen, quietischen, antivitalen Charakter der indischen Zivilisation auf hört und einer zutreffenden und aufgeschlossenen Bewertung Platz macht. Ganz sicher hat die indische Kultur immer jenem im Menschen den höchsten Wert gegeben, das über die irdischen Belangen hinausgeht. Sie hat das Ziel einer höchsten und schwierigen Selbsttranszendenz als Gipfel der menschlichen Anstrengung hochgehalten. Das spirituelle Leben war in ihrer Sicht etwas Höheres als das Leben äußerer Macht und äußeren Genusses, der Denker größer als der Mann der Tat, der spirituelle Mensch größer als der Denker. Die Seele, die in Gott lebt, ist vollkommener als die Seele, die nur äußeren Mental oder nur für die Ansprüche und Freuden denkender und lebender Materie lebt. Hier an dieser Stelle kommt der Unterschied herein zwischen der typischen westlichen und der typischen indischen Mentalität. Der Westen hat den religiösen Geist mehr erworben als ihn von Natur besessen, und er hat diesen Erwerb stets mit einer gewissen Leichtigkeit getragen. Indien hat stets an verborgene Welten geglaubt, von denen die materielle Welt nur ein Vorzimmer ist. Es sah stets ein Selbst in uns, das größer als das mentale und vitale Selbst ist, größer als das Ego. Stets hat es seinen Intellekt und sein Herz vor einem nahen und gegenwärtigen Ewigen gebeugt, in dem das zeitliche Wesen existiert und dem es sich im Menschen zunehmend der Transzendenz zuwendet. Die Empfindung des bengalischen Dichters, des wunderbaren Sängers und ekstatischen Anhängers der Göttlichen Mutter, der da sagt:
Als welch ein reiches Gut liegt der Mensch hier brach!
Bestellte man es, so käme eine goldene Ernte.
drückt das wirkliche indische Gefühl vom menschlichen Leben aus. Aber am meisten fühlt es sich zu den höheren spirituellen Möglichkeiten hingezogen, die der Mensch allein unter irdischen Wesen besitzt. Die alte arische Kultur erkannte alle Möglichkeiten des Menschen an, stellte jenes aber an die Spitze und ordnete das Leben entsprechend einer Stufenleiter in ihrem System der vier Klassen und der vier Lebensalter. Der Buddhismus brachte als erster eine übertriebene gewaltige Erweiterung des asketischen Ideals und des Impulses zum Klosterleben, beseitigte die Zwischenstufen und störte das Gleichgewicht. Sein siegreiches System ließ nur noch zwei Stufen übrig, die des Haushälters und des Asketen, des Mönchs und des Laien, ein Resultat, das bis zum heutigen Tag andauert. So sehen wir, daß der Buddhismus aufgrund dieser Störung des Dharma im Vishnu Purana heftig unter dem Schleier einer Apologie angegriffen wird, denn am Ende schwächte er das Leben der Gesellschaft durch seine verkrampfte Übertreibung und sein starres System von Gegensätzen. Aber auch der Buddhismus hatte eine andere Seite, eine Seite, die auf Handlung und Schöpfung gerichtet war, und gab dem Leben ein neues Licht, eine neue Bedeutung und eine sittliche und ideale Kraft. Danach kam der erhabene Illusionismus des Shankara gegen Ende der beiden größten bekannten Jahrtausende indischer Kultur. Das Leben war hinfort zu sehr abgewertet als Unwirklichkeit als relative Erscheinungsform, als etwas, das am Ende nicht des Lebens wert ist, nicht wert unserer Zustimmung und des Beharrens auf seinen Motiven. Aber dieses Dogma fand nicht überall Anerkennung, noch wurde es ohne Kampf aufgenommen; Shankara wurde von seinen Gegnern sogar als heimlicher Buddhist denunziert. Der spätere indische Geist war von seinem Gedanken der Maya stark beeindruckt; aber das allgemeine Denken und Fühlen wurde nie ganz von ihm geformt. Die Religionen der emotionalen Gottanbetung, die im Leben ein Spiel oder die Lila Gottes sehen und nicht eine halb düstere, halb strahlende Illusion, welche die weiße Stille der Ewigkeit entstellt, waren von unmittelbar wachsendem Einfluss. Wenn sie dem herben Ideal auch nicht entgegenwirkten, so humanisierten sie es doch. Erst in jüngster Zeit akzeptierte das kultivierte Indien die Auffassungen englischer und deutscher Gelehrter, hielt eine Zeitlang Shankaras Mayavada für die eine höchste Sache, wenn nicht gar für unsere gesamte Philosophie, gab ihr den Rang exklusiver Spitzenstellung. Aber auch gegen jene Tendenz gibt es jetzt eine starke Reaktion, der es nicht darum geht, Geist ohne Leben durch Leben ohne Geist zu ersetzen, sondern die einen spirituellen Besitz von Mental. Leben und Materie anstrebt. Und doch ist es wahr, daß das asketische Ideal, das in der alten Dynamik unserer Kultur die ansehnliche Turmspitze war, die in des ewige Sein aufstieg, in jüngerer Zeit zu ihrem kopflastigen Gewölbe wurde und dazu neigte, unter dem Gewicht seiner kahlen und imposanten Erhabenheit den Rest des Gebäudes zu erdrücken.
Aber auch hier sollten wir zur rechten Perspektive gelangen, fern aller Übertreibung und falscher Betonung. Archer zieht Karma und Wiedergeburt in seine Liste antivitaler indischer Konzepte hinein. Dies ist unsinnig, es ist ein törichtes Missverständnis, wenn man von der Wiedergeburt als von einer Doktrin spricht, die die Unwichtigkeit des augenblicklichen Lebens im Vergleich zur endlosen Kette vergangener und zukünftiger Existenzen predige. Die Lehre von Wiedergeburt und Karma sagt, daß die Seele eine Vergangenheit hat, die ihre gegenwärtige Geburt und ihr gegenwärtiges Leben gestaltete. Sie hat eine Zukunft, die unser gegenwärtiges Handeln bestimmt. Unsere Vergangenheit nahm die Form wiederholter irdischer Geburten an, ebenso wie unsere Zukunft dies tun wird, und Karma, unser eigenes Handeln, ist die Macht, die durch ihre Kontinuität und Entwicklung als subjektive und objektive Kraft die gesamte Natur und Möglichkeit dieser wiederholten Existenzen bestimmt. Wir findet hier nichts, was die Bedeutung des gegenwärtigen Leben abwerten würde. Vielmehr erhält es durch diese Doktrin erstaunliche Perspektiven, und der Wert von persönlicher Anstrengung und Handlung wird gewaltig erhöht. Die Natur der gegenwärtigen Handlung ist von unschätzbarer Bedeutung, weil sie nicht nur unsere unmittelbare, sondern auch unsere spätere Zukunft bestimmt. Auch findet sich, in der indischen Literatur beharrlich wiederkehrend und tief verwurzelt im Mental des Volkes, der Gedanke einer voll konzentrierten gegenwärtigen Handlung und Energie, tapasya, als einer wunderbaren alles vollbringenden Kraft zur Erlangung unserer Wünsche, ob es sich um die materiellen oder um die spirituellen Wünsche des menschlichen Willens handelt. Ohne Zweifel verliert unser gegenwärtiges Leben die exklusive Bedeutung, die wir ihm geben, wenn wir es nur als einen flüchtigen Augenblick in der Zeit betrachten, der sich nie wiederholen wird, unsere einzige Möglichkeit und Gelegenheit, ohne ein späteres Leben danach. Aber ein enges übertriebenes Betonen des Gegenwärtigen schließt die menschliche Seele im Gefängnis des Augenblicks ein: Es mag dem Handeln eine fiebrige Intensität geben, ist aber der Ruhe, Freude und Größe des Geistes abträglich. Ohne Zweifel gibt auch der Gedanken, daß unsere gegenwärtigen Leiden das Resultat unserer vergangenen Handlungen sind, dem indischen Mental Ruhe, Ergebung, Passivität, die zu verstehen oder zu tolerieren der ruhelosen westlichen Intelligenz schwer fällt. Dies kann zu einer Zeit großer nationaler Schwäche, Depression und des Missgeschicks zu einem quietistischen Fatalismus entarten, der das Feuer der Erneuerungsbemühung löscht. Aber dies ist nicht sein unvermeidlicher Gang, noch ist es derjenige, der ihm in den Dokumenten der mächtigeren Vergangenheit unserer Kultur zugeschrieben wird. Dort wirt von Aktion gesprochen, von tapasya. Auch nahm dieser mit Zeit wachsende Glaube noch eine weitere Wende in Form des buddhistischen Dogmas von der Abfolge der Wiedergeburten als einer kette von Karma, der die Seele entgehen und in die ewige Stille entrinnen muß. Dieser Gedanke hat den Hinduismus stark beeinflusst. Aber was immer bedrückend an ihm ist, gehört nicht eigentlich der Doktrin von der Wiedergeburt an, sondern anderen Elementen, die vom vitalistischen Denken Europas als asketischer Pessimismus gebrandmarkt wurden.
Pessimismus ist keine besondere Eigenart des indischen Mentals. Er war ein Element im Denken aller fortgeschrittenen Zivilisationen. Er ist das Zeichen einer Kultur, die bereits alt ist, die Frucht eines Bewusstseins, das lange gelebt, viel erfahren, das Leben erprobt hat und es voller Leiden fand, Freude gehabt und Leistung erbracht hat und fand, daß aller Nichtigkeit und Plage des Geistes ist und daß es nichts Neues mehr unter der Sonne gibt oder, falls es so etwas gibt, die Novität doch nur einen Tag dauert.
Pessimismus war in Europa nicht minder verbreitet als in Indien, und es ist gewiß ungewöhnlich, hier sehen zu müssen, wie ausgerechnet der Materialist gegen die indische Spiritualität Anklage erhebt, sie mindere die Werte des Daseins. Denn was könnte bedrückender sein als die materialistische Anschauung von der rein physischen, vorübergehenden Natur des menschlichen Lebens? Selbst in den extremsten asketischen Dokumenten des indischen Geistes findet sich nichts der schwarzen Finsternis gewisser Arten von europäischem Pessimismus Vergleichbares, eine Stadt von schrecklicher Nacht ohne Freude hier oder Hoffnung jenseits, und nichts wie die trauernde und zurückschreckende Haltung gegenüber dem Tod und der Auflösung des Körpers, die sich durch die westliche Literatur zieht. Der Anklang von asketischem Pessimismus, der sich oft im Christentum findet, ist eindeutig westlicher Prägung: denn er fehlt in den Lehren Christi. Die mittelalterliche Religion mit ihrem Kreuz, ihrer Erlösung durch Leiden, ihrer vom Teufel und vom Fleisch geplagten Welt und den Flammen ewiger Hölle, die auf den Menschen jenseits des Grabes warten, hat einen Zug von Schmerz und Gräuel, der dem indischen Mental, religiöser Terror gewiß unbekannt ist, fern liegt. Das Leiden der Welt ist da, aber es verflüchtigt sich zu einer Wonne spirituellen Friedens oder spiritueller Ekstase jenseits der Demarkationslinie des Leidens. Buddhas Lehre legte großen Nachdruck auf das Leiden und die Vergänglichkeit der Dinge, aber das buddhistische Nirvana, das durch den heroischen Geist moralischer Selbstbezwingung und ruhiger Weisheit gewonnen wird, ist ein Zustand unsagbarer Stille und Freude, der nicht nur einigen wenigen offen steht, wie die christlichen Himmel, sondern allen, und der sehr verschieden ist von der völligen Auslöschung, die die mechanische Befreiung von unserem Schmerz und Kampf ist, dem kläglichen Nirvana des westlichen Pessimisten, dem abrupten Auslaufen-aller Dinge des Materialriste. Selbst der Illusionismus predigte nicht eine Botschaft des Leidens, sondern die letztliche Unwirklichkeit von Freude und Kummer und dem ganzen Weltdasein. Er gesteht die praktische Gültigkeit des Lebens ein und läßt dessen Werte jenen, die in der Unwissenheit leben. Und wie alles indische Asketentum stellt er dem Menschen die Möglichkeit einer größeren Anstrengung vor Augen, eine erleuchtete Konzentration von Wissen, einen mächtigen Drang des Willens, durch die er zu einem absoluten Frieden oder einer absoluten Wonne aufsteigen kann. Ein nicht unwürdiger Pessimismus existierte hinsichtlich des normalen menschlichen Lebens, so wie es ist, ein tiefes Gefühl seiner Unvollkommenheit, ein Widerwille gegen seine nichtige Finsternis, Beschränktheit und Unwissenheit. Aber ein unbezwingbarer Optimismus bezüglich seiner spirituellen Möglichkeit war die andere Seite dieser Stimmung. Wenn er nicht an das Ideal eines gewaltigen materiellen Fortschritts der Menschheit oder einer Vervollkommnung des normalen Menschen im Bereich der Erde glaubte, so glaubte er doch an einen sicheren spirituellen Fortschritt für jeden Einzelnen und eine letztliche Vollkommenheit, die hinausgehoben ist über jene Ebene, wo er den Schlägen des Lebens ausgesetzt ist. Und dieser Pessimismus bezüglich des Lebens ist nicht die einzige Not des indischen religiösen Geistes. Seine populärsten Formen akzeptieren das Leben als ein Spiel Gottes und sehen jenseits unserer gegenwärtigen Bedingungen für jeden Menschen die ewige Nähe zum Göttlichen. Ein leuchtender Aufstieg zur Gottheit wurde stets als eine Erfüllung angesehen, die ganz in der Reichweite des Menschen liegt. Dies kann man schwerlich eine beidrückende oder pessimistische Daseinstheorie nennen.
Es kann keine große und vollständige Kultur geben ohne ein Element des Asketentums in ihr; denn Askese bedeutet die Selbstverleugnung und Selbstbezwingung, durch die der Mensch seine niederen Impulse zügelt und sich zu größeren Höhen seiner Natur erhebt. Indisches Asketentum ist nicht eine traurige Botschaft des Leidens oder eine schmerzliche Geißelung des Fleisches in ungesunder Buße, sondern eine noble Bemühung um höhere Freude und absoluten Besitz des Geistes. Eine große Freude an der Selbstbezwingung, eine stille Freude im inneren Frieden und die kraftvolle Freude durch höchste Selbstüberwindung liegen an der Wurzel seiner Erfahrung. Nur ein Mental, das vom Fleisch betört ist oder zu sehr am äußeren Leben und seinen ruhelosen Anstrengungen und unbeständigen Befriedigungen hängt, kann die Nobilität oder idealistische Höhe der asketischen, Bemühung leugnen. Aber es gibt die Übertreibungen und Abwandlungen, denen alle Ideale unterliegen. Jene Ideale, die für die Menschheit am schwierigsten sind, leiden am meisten darunter, und so kann Askese zu einer fanatischen Selbstquälerei werden, einer großen Unterdrückung der Natur, einer Weltflucht aus Erschöpfung oder einem trägen Ausweichen gegenüber dem Lebensproblem und einem schwachen Zurückschaudern vor der Anstrengung, die von uns als Menschen verlangt wird. Wenn Askese praktiziert, wird, nicht von den relative wenigen, die dazu berufen sind, sondern wenn sie in ihrer extremen Form allen gepredigt wird und von Tausenden von Nicht-Qualifizierten übernommen wird, so können ihre Werte entstellt werden, es kann zahlreiche Fälschungen geben, und die Lebenskraft der Gemeinschaft kann ihre Elastizität und progressive Spannkraft verlieren. Es wäre müßig, wollte man behaupten, daß es solche Mängel und unerwünschten Resultate in Indien nicht gegeben habe. Ich akzeptiere das asketische Ideal nicht als letzte Lösung des menschlichen Daseins problems; aber selbst seine Übertreibungen haben einen edleren Geist hinter sich als die vitalistischen Übertreibungen, die der entgegengesetzte Mangel der westlichen Kultur sind.
Schließlich und endlich sind Asketentum und Illusionismus Probleme von untergeordneter Bedeutung. Hervorzuheben ist, daß indische Spiritualität zu ihren größten Zeiten und in ihrer innersten Bedeutung nicht ein erschöpfter Quietismus oder in konventionelles Klosterleben war, sondern die hohe Anstrengung des menschlichen Geistes, über Begehren und vitale Befriedigung hinauszugehen, um zu einem Gipfel spiritueller Ruhe, Größe, Kraft, Erleuchtung, göttlicher Verwirklichung, des festen Friedens und der Wonne zu gelangen. Im Vergleich zwischen der Kultur Indiens und dem vehementen weltlichen Aktivismus des modernen Bewusstseins stellt sich die Frage, ob eine solche Anstrengung für die höchste Vervollkommnung des Menschen wesentlich ist oder nicht. Und wenn dies der Fall ist, dann stellt sich die weitere Frage, ob es sich nur um eine außergewöhnliche Kraft handeln soll, die sich auf einige seltene Einzelne beschränkt, oder um die hauptsächliche Motivkraft einer großen und menschlichen Zivilisation.
Eine rechte Beurteilung des Wertes der indischen Philosophie für das Leben ist eng verknüpft mit der rechten Einschätzung des Wertes der indischen Religion für das Leben; Religion und Philosophie sind zu innig verbunden in dieser Kultur, um voneinander getrennt zu werden. Indische Philosophie ist keine rein rationale Gymnastik spekulativer Logik in den Wolken, kein ultrasubtiler Prozeß des Gedankenerwebens und Wortwebens wie der größte Teil der Philosophie in Europa. Sie ist die gegliederte intellektuelle Theorie von der intuitiven ordnenden Wahrnehmung all dessen, was die Seele, das Denken, die dynamische Wahrheit, den Kern von Gefühl und Kraft der indischen Religion ausmacht. Indische Religion ist indische spirituelle Philosophie, in die Tat und die Erfahrung umgesetzt. Alles was im religiösen Denken und in der religiösen Praxis jenes weiten, reichen, tausendfältigen, unendlich geschmeidigen und doch sehr fest strukturierten Systems, das wir Hinduismus nennen, der Intention nach nicht unter diese Beschreibung fällt – ganz gleich, welches seine praktische Form auch sei -, ist entweder gesellschaftlicher Rahmen oder Projektion ritueller Hilfsmittel und Überbleibsel alter Stützen und Zusätze. Oder aber es ist Auswuchs und Vermehrung der Korruption, eine Herabstufung seiner Wahrheit und Bedeutung im Volksgeist, Teil jener verfälschten Mixturen, die alles religiöse Denken und alle religiöse Praxis einholen. In manchen Fällen ist es tote Gewohnheit, die zu Zeiten der Versteinerung angenommen wurde, oder schlecht assimilierte Fremdmaterie, die dieser Riesenkörper aufnahm. Das innere Prinzip des Hinduismus, des tolerantesten und Rezeptivität aller religiösen Systeme, ist nicht streng exklusiv wie der religiöse Geist von Christentum oder Islam. Soweit er es ohne Verlust seiner mächtigen individuellen Eigenart und seines starken persönlichen Daseinsgesetzes sein konnte, war er synthetisch, anreichernd, allumfassend. Er hat stets von jeder Seite her aufgenommen und sich darauf verlassen, daß seine Assimilationskraft, die in seinem spirituellen Herzen und in der weißen Glut seines Flammenzentrums brennt, selbst das ungünstigste Material in Formen für seinen Geist umwandelt.
Aber bevor wir nun prüfen, was denn unseren feindseligen westlichen Kritiker an indischer religiöser Philosophie so sehr irritiert oder verärgert, tun wir gut daran, zu betrachten, was er über andere Aspekte dieses alten, zeitlosen und noch sehr lebendigen, wachsenden, all assimilierenden Hinduismus zu sagen hat. Denn er hat eine Menge zu sagen, und dabei geht er schonungslos und maßlos vor. Wir finden hier nicht den zügellosen Rausch der Denunziation und das Ausspeien falschen Zeugnisses, des Hasses, der Unbarmherzigkeit und all dessen, was herabwürdigend, unspirituell und unsauber ist, wie es charakteristisch ist für eine gewisse Art christlicher Literatur zu diesem Thema. Das unübertreffliche Beispiel dieser verderblichen Mischung hat Sir John Woodroffe aus den Seiten Harold Begbies zitiert; es ist männlich vielleicht, wenn Gewalt männlich ist, aber sicherlich nicht gesund. Dennoch ist es ein Komplex schonungsloser Verdammung, übertrieben dort, wo es überhaupt eine Grundlage hat, und unbeschwert unlogisch in der heiteren Freude bewusster Fehldarstellung. Dennoch kann man aus dieser groben Masse die ins Auge springenden typischen Antipathien herauslösen, die sie dem unkritischen Gemüt und selbst vielen kritischen Gemütern empfehlen, und allein diese Antipathien lohnt es zu entdecken.
Die völlige Irrationalität des Hinduismus ist der Hauptgegenstand des Angriffs. Archer konzediert zwar beiläufig ein philosophische – und, könnte man deshalb annehmen, rationales – Element in der Religion Indiens, aber er diskreditiert die Leitgedanken dieser religiösen Philosophie, so wie er sie versteht oder zu verstehen meint, und weist sie als falsch und schädlich zurück. Er erklärt den vorherrschenden irrationalen Charakter der Hindu-Religion mit der Behauptung, das indische Volk habe stets mehr zur Erscheinungsform geneigt als zur Substanz und mehr zum Buchstaben als zum Geist. Man sollte annehmen, daß eine solche Neigung ein recht allgemeiner Zug des menschlichen Gemütes ist, nicht in der Religion, sondern auch in Gesellschaft, Politik, Kunst, Literatur, selbst in der Naturwissenschaft. In jeder vorstellbaren menschlichen Tätigkeit zwischen China und Peru war ein Kult der Erscheinungsform ein Vernachlässigen des Geistes, eine Hinwendung zur Äußerlichkeit, zum mechanischen Dogma die allgemeine Tendenz des menschlichen Bewusstseins. Sie überspringt Europa keineswegs. Europa, wo Menschen um Dogmen, Wörter, Riten und Formen der Kirchenadministration willen in jeder von menschlicher Torheit und Grausamkeit auszumalenden Weise gekämpft, getötet, verbrannt, gefoltert, eingekerkert, verfolgt haben, Europa, wo diese Dinge an die Stelle von Spiritualität und Religion traten, hat kaum eine Vergangenheit aufzuweisen, die es berechtigen würde, gegenüber dem Osten diesen Vorwurf zu erheben. Aber, so wird uns mitgeteilt, diese Neigung habe die indische Religion mehr in Mitleidenschaft gezogen als jedes andere Bekenntnis. Der höhere Hinduismus sei kaum anderswo zu finden als in gewissen kleinen reformierenden Sekten, und der gegenwärtige Hinduismus, die volkstümliche Religion, sei der Kult einer monströsen Folklore, die die Vorstellungskraft bedrückt und lähmt (obgleich man hier wiederum meinen sollte, daß – wenn überhaupt – das indische Gemüt eher des Exzesses als der Lähmung schöpferischer Vorstellung beschuldigt werden könnte). Animismus und Magie seien die vorherrschenden Eigentümlichkeiten. Das indische Volk habe eine Anlage zur Verdunkelung der Vernunft und zur Formalisierung, Materialisierung und Herabwürdigung der Religion offenbart. Wenn Indien große Denker besaß, so habe es deren Gedanken keine rationale und erhebende Religion entnommen. Die religiöse Anbetung des spanischen oder des russischen Bauern sei vergleichsweise rational und aufgeklärt. Irrationalismus, Antirationalismus, - dies ist in der schwerfälligen und überzogenen Anklage die ständige Parole; es ist der Grundton von Archers Melodie.
Das Ereignis, das das Mental des Kritikers erstaunt und abgestoßen hat, ist das beharrliche Überleben des alten religiösen Geistes und großer antiker Religionsarten in Indien, die nicht von der Flut des Modernismus und seinem verheerenden utilitaristischen Freidenken verschüttet wurden. Indien, so sagt er uns, halte noch immer an dem fest, was nicht nur die westliche Welt, sondern auch China und Japan seit langem hinter sich gelassen hätten. Die Religion sei ein Aberglaube voll frommer Verrichtungen, die den freien, aufgeklärten Verstand des modernen Menschen abstoßen. Ihre täglichen Praktiken entrückten sie weit dem Bereich der Zivilisation. Vielleicht wäre sie als menschlich und erträglich akzeptiert worden, wenn sie ihre Praxis dezent auf den sonntäglichen Kirchgang sowie kirchliche Trauung, Bestattung und Tischgebet beschränkt hätte! Tatsächlich sei sie nun der große Anachronismus der modernen Welt. Seit dreißig Jahrhunderten sei sie nicht gereinigt worden. Sie stelle Heidentum dar, ein völlig ungefiltertes Heidentum. Ihre Tendenz zur Befleckung eher denn zur Reinigung erkläre ihren einsamen Rang am unteren Ende der Wertskala der Weltreligionen. Ein einfallsreiches Mittel zur Abhilfe wird vorgeschlagen. Das Christentum beseitigte das Heidentum in Europa. Da jeder unmittelbare oder sehr schnelle Triumph skeptischen Freidenkens ein zu abrupter Übergang wäre, um ganz und gar passend zu sein, wird uns unaufgeklärten, befleckten, unreinen Hindus geraten, es eine Zeitlang mit dem Christentum zu halten,- welch armes irrational Ding das auch sein mag, und wenn es auch im hellen Licht der positivistischen Vernunft entstellt ausschaut –, weil das Christentum, und insbesondere das protestantische Christentum,wenigstens ein guter vorbereitender Schritt in Richtung auf die edle Freiheit und die makellose Reinheit von Atheismus und Agnostizismus sei. Aber wenn man selbst auf dieses Geringfügige nicht hoffen könne, trotz zahlreicher Hunger-Bekehrungen, so müsse der Hinduismus doch in jedem Fall auf diese oder jene Weise gefiltert werden. Und bis der Reinigungsprozess durchgeführt ist, müsse Indien die Gleichstellung mit den zivilisierten Nationen versagt bleiben.
Übrigens sehen wir hier, daß für die Anklage des Irrationalismus und die Nebenklage des Heidentums ein dritter und noch schädlicherer Klagepunkt als zusätzliche Stütze gegen uns und unsere religiöse Kultur vorgebracht wird: das angebliche Fehlen jeden moralischen Wertes und aller ethischen Substanz. Es gibt nun eine wachsende Einsicht, selbst in Europa, daß Vernunft nicht das letzte Wort des menschlichen Mentals ist, auch nicht eine und einzige souveräne Weg zur Wahrheit und sicher nicht der alleinige Schiedsrichter über religiöse und spirituelle Wahrheit. Auch die Anklage des Heidentums löst die Frage nicht, da viele kultivierte Menschen sehr wohl zu sehen vermögen, daß es in den alten Religionen zahlreiche große, wahre und schöne Dinge gab, die von christlicher Unwissenheit unter jenem unangebrachten Sammelnamen zusammengeworfen wurden. Auch war es ganz und gar kein Gewinn für die Welt, als sie diese hohen alten Formen und Motive verlor. Aber ganz gleich, welches die tatsächliche Praxis der Menschen ist – und in dieser Hinsicht ist der normale Mensch eine einzigartige Mischung des aufrichtigen, aber ganz unwirksamen, des rechtschaffenen respektablen, möchte-gern sittlichen Menschen mit dem sich selbst betrügenden oder halb-heuchlerischen Pharisäer –, man kann stets kraftvoll an ein moralistisches Vorurteil appellieren. Alle Religionen hissen die Flagge der Moral, und alle, ob sie religiös oder weltlich eingestellt sind, alle außer dem, der das moralische Gesetz nicht für bindend hält, dem Rebellen und Zyniker, erklären, daß sie jener Norm in ihrem Leben folgen oder sie zumindest akzeptieren. Diese Anklage ist daher in etwa die am meisten voreingenommene Beschuldigung, die gegen irgendeine Religion erhoben werden kann. Der selbsternannte Strafrichter, dessen Schmähschrift wir prüfen, trägt sie skrupellos und ohne Maß vor. Er hat entdeckt, daß der Hinduismus keine erhebende oder eben moralisch hilfreiche Religion sei. Wenn der Hinduismus auch viel von Rechtschaffenheit gesprochen habe, so habe er nie den Anspruch erhoben, daß Morallehre eine seiner Aufgaben sei. Eine Religion, die viel von Rechtschaffenheit reden kann, ohne die Aufgabe einer Morallehre zu erfüllen, wäre dasselbe wie ein Quadrat, das nicht beanspruchen kann, ein Viereck zu sein; aber das sei außer Acht gelassen. Wenn der Hindu vergleichsweise frei von den gröberen westlichen Abirrungen ist – bislang noch, und nur solange, bis er in den Bereich der Zivilisation eintritt indem er das Christentum annimmt oder sonst wie so nicht deshalb, weil es eine sittliche Veranlagung in seinem Charakter gebe, vielmehr deshalb, weil er zu diesen Abirrungen keine Gelegenheit habe. Sein Gesellschaftssystem, das sich auf der barbarischen Vorstellung vom Dharma aufbaut, des göttlichen und des menschlichen, des universalen und des individuellen, des ethischen und gesellschaftlichen Gesetzes und in allen Punkten darauf basiere, habe es törichterweise unterlassen, ihm die Gelegenheiten zu geben, dieses Gesetz zu verlassen, was die westliche Zivilisation so großzügig biete. Und doch beinhalte die ganze Art des Hinduismus, die zugleich die Art des Volkes ist, so wird uns ruhig mitgeteilt, einen melancholischen Hang zu allem, was schrecklich und verderblich sei. An dieser Stelle höchst maßloser Verurteilung können wir Archers ungeheuerliches und verderbliches Schaustück der Verunglimpfung verlassen und uns daran machen, die eigenwilligen Quellen seiner Abneigung und seines Ärgers zu analysieren.
Insbesondere zwei Dinge charakterisieren das gewöhnliche europäische Mental – wir müssen einige große Seelen und einige große Denker, Augenblicke oder Epochen außergewöhnlicher Religiosität außer Acht lassen und die dominierende Tendenz betrachten. Diese zwei bedeutsamen Merkmale sind der Kult der forschenden, abgrenzenden, wirkungsvollen, praktischen Vernunft und der Kult des Lebens. Die großen Blütenzeiten europäischer Zivilisation, die griechische Kultur, die römische Welt vor Konstantin, die Renaissance, das moderne Zeitalter mit seinen beiden gigantischen Idolen Industrialismus und Naturwissenschaft, erfuhr der Westen jeweils mit dem starken Auftrieb dieser doppelten Kraft. Immer wenn die Flut dieser Kräfte verebbte, trat das europäische Mental in große Verwirrung, Dunkelheit und Schwäche ein. Das Christentum vermochte nicht Europa zu spiritualisieren – was immer es auch getan hat, um Europa in gewissen ethischen Richtungen zu humanisieren –, weil es diesen beiden Hauptinstinkten zuwiderlief. Es leugnete die Herrschaft der Vernunft und belegte eine zufriedene oder rastlose Lebensfülle mit seinem Bannspruch. In Asien gab es weder ein Dominieren der Vernunft und des Lebenskultes noch eine Unvereinbarkeit dieser beiden Kräfte mit dem religiösen Geist. Die großen Zeitalter Asiens, die mächtigen Gipfel seiner Zivilisation und Kultur – in Indien die hohen vedischen Anfänge, die große spirituelle Bewegung der Upanischaden, die weite Bewegung des Buddhismus, Vedanta, Sankhya, der puranischen und tantrischen Religionen, die Blüte von Vishnuismus und Shivaismus in den Königreichen des Südens – kamen im Gefolge einer Flutwelle spirituellen Lichtes und eines massiven und intensiven Aufstiegs des religiösen oder religiösphilosophischen Geistes zu den eigenen Höhen, seinen edelsten Realitäten, seinen größten Schätzen an Schau und Erfahrung. Zu solchen Zeiten geschah es, daß Intellekt, Denken, Dichtung, die Künste, das materielle Leben ihre große Blüte erlebten. Das Verebben der Spiritualität führte hingegen immer die Schwächung dieser anderen Kräfte herbei, Perioden der Versteinerung, zumindest ein Abnehmen der Lebenskraft, Zeiträume des Niedergangs, ja Anfänge des Verfalls. Dies ist ein Schlüssel, an dem wir festhalten müssen, wenn wir die Hauptabweichungen zwischen Ost und West verstehen wollen.
In der Richtung zum Geist hin – wenn schon nicht die volle Strecke – muß der Mensch aufsteigen, oder er verfehlt seine Höherentwicklung. Aber es gibt verschiedene Wege, um mit den verborgenen Kräften des Geistes in Kontakt zu kommen. Europa, so möchte es scheinen, muß die Stadien von Leben und Vernunft durchlaufen und durch sie die spirituelle Wahrheit als Krone und Offenbarung entdecken. Es kann nicht sogleich das Himmel reich mit Gewalt einnehmen, wie nach Christi Ausspruch Menschen es täten. Dieser Versuch verwirrt und verdunkelt Europas Vernunft, wird bekämpft von seinen Lebensinstinkten und führt zur Revolte, zur Negation, zur Rückkehr zu seinem eigenen Wesensgesetz. Doch Asien, zumindest Indien, lebt in natürlicher Weise durch einen spirituellen Herabfluß von oben: Dies allein bringt die spirituelle Erweckung seiner höheren mentalen und Lebenskräfte mit sich. Die beiden Kontinente sind die beiden Hälften des integralen Erdkreises der Menschheit, und bis sie sich treffen und miteinander verschmelzen, muß jeder von ihnen jedmöglichen Fortschritt oder Gipfel, den der Geist in der Menschheit sucht, durch sein Daseinsgesetz, sein je eigenes ihm zugehöriges Dharma anstreben. Eine einseitige Welt stünde nur ärmer da mit ihrer Einförmigkeit und der Eintönigkeit einer einzigen Kultur. Abweichende Pfade des Fortschritts sind notwendig bis wir unseren Kopf in jene Unendlichkeit des Geistes recken können, in der genügend Licht existiert, um alles zusammenzubringen und auszusöhnen, höchste Wege des Denkens, Fühlens und Leben. Dies ist eine Wahrheit, die der gewaltsame indische Angreifer eines materialistischen Europa und der verächtliche Feind oder kaltblütige Verunglimpfen asiatischer oder indischer Kultur gemeinsam ignorieren. Es geht hier nicht eigentlich um die Frage von Barbarei oder Zivilisation, denn alle Menschenmassen sind Barbaren, die Anstrengungen unternehmen, um sich zu zivilisieren. Es besteht nur einer jener dynamischen Unterschiede, die für die Vollständigkeit des wachsenden Kreises menschlicher Kultur notwendig sind.
Die Divergenz führt indessen unglücklicherweise einen ständigen Konflikt der Anschauungen in der Religion und auf den meisten anderen Gebieten herbei, und der Gegensatz bringt mehr oder minder Unfähigkeit zum wechselseitigen Verstehen und sogar direkte Feindschaft und Abneigung mit sich. Die Betonung des westlichen Mentals liegt auf Leben, vor allem dem äußeren Leben, auf den Dingen, die begriffen werden, sichtbar, fühlbar sind. Das innere Leben wird nur als intelligente Reflexion der Außenwelt angesehen, wobei die Vernunft ein resoluter Gestalter der Dinge ist, ein kluger Kritiker, Baumeister, Verfeinerer der äußeren Materialien, die die Natur bietet. Die gegenwärtige Nutzung des Lebens, ganz in diesem Leben und für dieses Leben da zu sein, ist das Hauptanliegen Europas. Das gegenwärtige Leben des Einzelnen, die fortdauernde physischen Existenz sowie das sich entwickelnde Mental und Wissen der Menschheit sind das ein Interesse, das Europa ganz in Anspruch nimmt. Der Westen hat eine Tendenz, selbst von der Religion zu fordern, daß sie ihr Ziel oder ihre Wirkung diesem Nutzen für die unmittelbare, sichtbare Welt unterordnen soll. Der Grieche und der Römer betrachteten religiösen Kult als Bestätigung für das Leben der polis oder als Kraftvollen Beitrag zur rechten Stabilität und Festigkeit des Staates. Das Mittelalter, zu dessen Zeit der christliche Gedanke seine Hochblüte hatte, war ein Interregnum; es war eine Epoche, in der das westliche Mental versuchte, in Emotion und Intelligenz ein orientalisches Ideal zu assimilieren. Aber es gelang ihm nie, es beständig zu leben, und mußte es schließlich aufgeben oder es nur als Lippenbekenntnis behalten. Der gegenwärtige Augenblick ist in derselben Weise für Asien ein Interregnum, dominiert von dem Versuch, trotz einer rebellischen Seele und Gemütsverfassung die westliche Weltanschauung und deren erdgebundenes Ideal in Intellekt und Leben zu assimilieren. Und wir können mit Gewissheit voraussagen, daß es auch Asien nicht gelingen wird, dieses fremde Gesetz beständig oder für lange Zeit zu leben. Aber in Europa mußte selbst der christliche Gedanke, in seiner puren Reinheit gekennzeichnet durch die Betonung seiner introspektiven Tendenz und eine kompromisslose Ausrichtung aufs Jenseitige, mit den Forderungen des westlichen Naturells einen Kompromiß schließen und verlor dabei das eigene innere Königreich. Das wahre Naturell des Westens triumphierte, in wachsendem Grad rationalisierte und säkularisierte es den religiösen Geist und löschte ihn fast aus. Die Religion wurde mehr und mehr zu einem schwachen, immer dünneren Schatten, verbannt in eine kleine Ecke des Lebens und eine noch kleinere Ecke der Natur, wobei sie ihr Todesurteil oder ihre Verbannung ins Exil erwartete, während außerhalb der Tore der bezwungenen Kirche die triumphierenden weltlichen Gepränge des äußeren Lebens und die praktische Vernunft und materialistische Naturwissenschaft siegreich marschierten.
Die Tendenz zum Säkularismus ist eine notwendige Konsequenz des von seiner innersten Innenschau losgelösten Lebenskultes und Verstandes. Das alte Europa trennte nicht Religion und Leben; aber das lag daran, daß keine Notwendigkeit für eine Trennung bestand. Seine Religion war, sobald sie sich vom orientalischen Element der Mysterien befreite, eine weltliche Institution, die nicht über eine gewisse übernatürliche Bestätigung und geeignete Hilfe für die Regelung dieses Lebens hinausschaute. Und selbst dann bestand die Tendenz, die Überbleibsel des ursprünglichen religiösen Geistes wegzuphilosophieren und wegzuargumentieren, den kleinen Schatten, der noch von den brütenden Schwingen eines überrationalen Mysteriums blieb, zu verbannen und in das klare Sonnenlicht der logischen und praktischen Vernunft zu gelangen. Aber das moderne Europa ging noch weiter bis zum Ende selbst dieses Pfades. Um die Zwangsvorstellung des christlichen Konzeptes wirksamer abzuschütteln, das – wie alles orientalische Denken – den Anspruch erhebt, die Religion dem Leben kommensurabel zu machen und das ganze Wesen und seine Handlungen gegen jedweden Widerstand, der ihm von der ungeläuterten vitalen Natur des animalischen Menschen entgegengebracht wird, zu spiritualisieren, trennte das moderne Europa Religion vom Leben, von der Philosophie, von Kunst und Wissenschaft, von Politik, vom größeren Teil gesellschaftlichen Handeln und Lebens. Und es säkularisierte und rationalisierte auch die ethische Forderung, damit es ganz auf eigenen Füßen stehen könne und nicht an irgendwelche Hilfe vonseiten religiöser Sanktion oder mystischer Eindringlichkeit angewiesen sei. Am Ende dieser Wende finden wir eine antinomische Tendenz, die ständig in der Lebensgeschichte Europas wiederkehrt und jetzt wieder offenkundig ist. Diese Kraft sucht auch Ethik zu annullieren, nicht indem sie sich über sie hinaushebt in die absolute Reinheit des Geistes, wie mystische Erfahrung es zu tun beansprucht, sondern indem sie aus ihren Schranken unter herausbricht in eine triumphierende Freiheit des vitalen Spiels. In dieser Entwicklung wurde Religion beiseite gelassen als ein ausgelaugtes System von Glauben und Zeremonie, dem man anhängen mag oder nicht, was wenig Unterschied bedeutet für den Vormarsch des menschlichen Mentals und Lebens. Ihre beherrschende und farbgebende Kraft war auf ein kleines Maß reduziert worden; eine oberflächliche Pigmentierung von Dogma, Gefühl und Emotion war alles, was diesen durchgreifenden Prozeß überlebte.
Selbst den ärmlichen kleinen Winkel, der der Religion noch zugestanden wurde, suchte der Intellektualismus soweit wie möglich mit dem Licht der Vernunft zu überfluten. Die Tendenz war, nicht nur die unterrationalen, sondern in gleicher Weise auch die überrationalen Schlupfwinkel des religiösen Geistes zu vermindern. Der alte heidnische polytheistische Symbolismus umkleidete mit seinen schönen Symbolfiguren die alte Vorstellung von einer göttlichen Gegenwart, supraphysischem Leben und supraphysischer Kraft in aller Natur und in jedem Teilchen des Lebens uns der Materie, in allem Tierleben und aller mentalen Handlung des Menschen, aber diese Vorstellung, die für die säkulare Vernunft nur ein intellektualisierter Animismus ist, war bereits gnadenlos verbannt worden. Die Gottheit hatte die Erde verlassen und lebte weit oben, fern in anderen Welten, in einem Himmel reich der Heiligen und unsterblichen Geistwesen. Warum sollte es andere Welten geben? Für mich, so rief der progressive Intellekt, gibt es nur diese materielle Welt, von der unsere Vernunft und Sinne zeugen. Eine vage kahle Abstraktion spiritueller Existenz ohne lebendiges Anwohnen, ohne jedes Mittel dynamischer Nähe verblieb, um die frostigen Überbleibsel des alten spirituellen Gefühls oder der alten phantastischen Illusion zu befriedigen. Es blieb ein leerer und lauer Theismus, ein rationalisiertes Christentum ohne den Namen Christi, ohne seine Gegenwart. Und warum sollte selbst dies vom kritischen Licht der Intelligenz zugestanden werden? Dem rationalen Verstand genügt ganz und gar eine Vernunft oder Kraft, die mangels eines besseren Namens Gott genannt und im materiellen Universum vom moralischen und physischen Gesetz repräsentiert wird. So gelangen wir zum Deismus, zu einer leeren intellektuellen Formel. Warum sollte es überhaupt einen Gott geben? Vernunft und Sinne zeugen an sich nicht von Gott. Im besten Falle können sie aus Ihm lediglich eine plausible Hypothese machen. Aber es besteht keine Notwendigkeit für eine substanzlose Hypothese, da Natur genügt und die einzige Sache ist, von der wir etwas wissen. So gelangen wir durch einen unvermeidlichen Prozess zum atheistischen oder agnostischen Kult des Säkularismus, dem Gipfel der Leugnung, dem Zenith der empirischen Intelligenz. Und dort können Vernunft und Leben hinfort Wurzeln schlagen und mit Genugtuung über eine eroberte Welt regieren,–wenn nur jenes unpassende, verschleierte, unklare, unendliche Etwas, das dahinter ist, sie in Zukunft nicht behelligt!
Ein Naturell, eine Weltanschauung dieser Art muß notwendigerweise gegenüber einer Bemühung wie dem ernsthaften Streben nach dem Überrationalen und dem Unendlichen abgeneigt sein. Sie mag ein beschränktes Spiel dieser subtilen Halluzinationen als unschuldigen Zeitvertreib des spekulativen Mentals oder der künstlerischen Vorstellung zulassen, vorausgesetzt, es ist nicht zu ernst und bleibt ohne Einfluß aufs Leben. Askese und Jenseitigkeit sind diesem Naturell zuwider und fatal für seine Weltanschauung. Das Leben ist etwas, das man entsprechend unserer eigenen Kraft rational oder dynamisch besitzen und genießen muß: dieses irdische Leben, die eine Sache, die wir kennen, unser einziges Feld. Im höchsten Fall sind gemäßigte intellektuelle und ethische Askese zulässig, das einfache, schlichte Leben, hohes Denken; aber ein ekstatisches, spirituelles Asketentum ist ein Vergehen an der Vernunft, fast ein Verbrechen. Dem Pessimismus der vitalistischen Art mag man seine Stimmung oder seine Stunde lassen; denn er räumt ein, daß das Leben ein Übel sei, das man leben müsse und nicht an seinen Wurzeln kappt. Aber der offenbar rechte Standpunkt ist es, das Leben so zu nehmen, wie es ist, und das beste daraus zu machen, entweder im praktischen Sinn zum besten Ordnen seines gemischten Guten und Bösen oder im idealen Sinn mit einer Hoffnung auf eine relative Vollkommenheit. Wenn Spiritualität irgendeine Bedeutung haben soll, so kann sie nur das Ziel oder die hohe Anstrengung einer gehobenen Intelligenz sein, eines rationalen Willens, einer begrenzten Schönheit und eines moralischen Guten, das versuchen wird, das Beste aus diesem gegenwärtigen Leben zu machen, und nicht vergeblich nach dem Jenseits, nach einer unmenschlichen, unerreichbaren, unendlichen oder absoluten Genugtuung Ausschau halt. Wenn Religion überleben soll, so möge ihre Funktion darin bestehen, dieser Art spirituellen Zielen zu dienen, das Verhalten zu regeln, unserem Leben Schönheit und Reinheit zu verleihen. Doch möge sie dabei dieser gesunden und männlichen Spiritualität dienlich sein und innerhalb der Grenzen der praktischen Vernunft und einer irdischen Klugheit bleiben. Diese Beschreibung isoliert ohne Frage die Haupttendenzen und ignoriert Abweichungen nach der einen oder anderen Seite; während es in aller menschlichen Natur Abweichungen geben muß, oft von extremer Art. Aber ich denken, es ist keine unfaire oder übertriebene Beschreibung der ständigen Basis und der charakteristischen Ausrichtung des westlichen Naturells, seiner Weltanschauung und der normalen Position seiner Intelligenz. Dies ist ihre selbsterfüllte statische Position, bevor sie zu jener Abweichung oder Selbsttranszendenz übergeht, zu der Mensch unweigerlich bewegt wird, wenn er den Gipfel seines normalen Wesens erreicht. Denn er birgt in sich eine natürliche Kraft, die entweder wachsen oder aber stagnieren, aufhören, zerfallen muß. Bis er sich ganz gefunden hat, gibt es für ihn kein statisches Verweilen und kein permanentes Heim für seinen Geist. Wenn dieses westliche Mental nun der noch überlebenden Kraft indischer Religion, indischen Denkens, indischer Kultur konfrontiert wird, entdeckt es, daß all seine Normen negiert, überschritten oder geschmälert werden: Alles, was es ehrt, wird auf den zweiten Platz verwiesen; alles, was es zurückgewiesen hat, wird noch in Ehren gehalten. Hier ist eine Philosophie, die sich auf die unmittelbare Realität des Unendlichen gründet, auf den dringenden Anspruch des Absoluten. Und dies nicht als etwas, worüber zu spekulieren ist, sondern als wirkliche Gegenwart und ständige Kraft, die die Seele des Menschen fordert und ruft. Hier ist eine Mentalität, die das Göttliche in der Natur, in Mensch und Tier und in den unbelebten Dingen sieht, Gott am Anfang, Gott in der Mitte, Gott am Ende, Gott überall. Und all dies ist nicht ein zulässiges dichterisches Spiel der Vorstellung, die vom Leben nicht zu ernst zu nehmen ist, sondern wird unterbreitet als etwas, das es zu leben, zu verwirklichen gilt, selbst hinter äußere Handlung zu stellen, in Substanz von Gedanke, Gefühl und Handlung zu verwandeln ist. Und ganze Disziplinen sind für diesen Zweck systematisiert worden, Disziplinen, die Menschen immer noch über. Und ganze Leben werden diesem Streben nach der höchsten Person, der universalen Gottheit, dem Einen, dem Absoluten, Unendlichen gewidmet. Und um dieses immaterielle Ziel zu verfolgen, sind Menschen immer noch dazu bereit, das äußere Leben und die Gesellschaft, Heim und Familie, ihre liebsten Interessen und alles, was für einen rationalen Verstand einen substantiellen und nachweisbaren Wert hat, aufzugeben. Hier ist ein Land, das noch stark gefärbt ist von der Ackertönung des Gewandes des Sannyasin, wo das Jenseits noch als Wahrheit gepredigt wird und die Menschen einen Lebendigen Glauben an andere Welten, an Reinkarnation und einen ganzen Schwarm antiker Vorstellungen haben, deren Wahrheit durch die Instrumente der Naturwissenschaft gar nicht nachgewiesen werden kann. Hier hält man die Erfahrungen des Yoga für ebenso wahr oder mehr wahr als die Leboratoriumsexperimente. Ist dies nicht ein Denken von Dingen, die offenbar undenkbar sind, da der rationale westliche Verstand aufgehört hat, über sie nachzudenken? Ist es nicht ein Versuch, Dinge zu erkennen, die offenbar unerkennbar sind, da das moderne Mental alle Versuche aufgegeben hat, sie zu erkennen? Bei diesen irrationalen Halb-Wilden wird sogar eine Anstrengung unternommen, diese unwirkliche Sache zum höchsten Lebensflug zu machen, zu seinem ureigentlichen Ziel, zu einer beherrschenden Kraft, einer Gestaltungskraft in Kunst, Kultur und Umgangsformen. Aber Kunst, Kultur und Umgangsformen sind Dinge, die, so sagt uns dieser rationale Verstand, die indische Spiritualität und Religion logischerweise überhaupt nicht berühren sollten; denn sie gehören dem Bereich des Endlichen an und können nur auf der intellektuellen Vernunft, der praktischen Umwelt und den Wahrheiten und Hinweisen der physischen Natur gegründet werden. Hier haben wir die scheinbare Kluft zwischen den beiden Mentalitäten in ihrer ureigenen Form und sie erscheint unüberbrückbar. Oder vielmehr kann der indische Verstand die positivistische Tendenz westlicher Intelligenz gut genug verstehen, selbst wenn er sie nicht teilt. Aber er selbst ist für letztere eine Sache, die, wenn nicht zu verdammen, so doch anomal und unverständlich ist.
Die Auswirkungen des indischen religiös-philosophischen Standpunktes auf das Leben sind dem westlichen Kritiker noch unerträglicher. Wenn seiner Vernunft bereits dieser übernationale, für ihn anti rationale Drang missfiel, so werden nun die stärksten Gefühle seines Naturells durch die Konfrontation mit ihren unmittelbaren Gegenstücken und Gegensätzen heftig erschüttert. Das Leben, jenes Gut, dem er einen vollständigen und absoluten Wert beimißt, wird hier in Frage gestellt. Es wird geschmälert und entmutigt durch die extremsten Konsequenzen eines Aspektes der indischen Anschauung oder Innenschau, es wird nirgendwo so akzeptiert, wie es um seiner selbst willen ist. Asketentum ist weit verbreitet, steht an der Spitze der Dinge, wirft seinen Schatten auf die vitalen Gefühle und ruft den Menschen auf, über das Leben des Körpers und selbst über das Leben des mentalen Willens und der Intelligenz hinauszugehen. Das westliche Mental legt erheblichen Nachdruck auf die Kraft der Persönlichkeit, auf den individuellen Willen, auf den sichtbaren Menschen und die Wünsche und Forderungen seiner Natur. Im Gegensatz dazu kommt es hier gerade auf hohe Entwicklung zur Unpersönlichkeit an, auf die Weitung des individuellen zum universalen Willen, auf ein Hinauswachsen über den sichtbaren Menschen und das Durchbrechen seiner Grenzen. Das Blühen des mentalen und vitalen Egos, bestenfalls dessen Förderlichkeit für das größere Ego der Gemeinschaft, ist kulturelle Ideal des Westens. Demgegenüber wird hier das Ego als Haupthindernis für die Vervollkommnung der Seele angesehen; sein Platz soll auch keineswegs vom konkreten Gemeinschaftsego eingenommen werden, sondern von etwas Innerem, Abstraktem, Transzendentalem, etwas Supramentalem, Supraphysischem, absolut Realem. Das westliche Naturell ist kinetisch, pragmatisch, aktiv; für es richtet sich Denken immer auf Handeln und besitzt wenig Wert außer um der Handlung willen oder aber zu einer subtilen Befriedigung des mentalen Spiels und der mentalen Energie. Der Typus, der hier bewundert werden soll, ist der selbst beherrschte sattwische Mensch, für den ruhiges Denken, spirituelles Wissen und das innere Leben Dinge von größter Bedeutung sind, und Handlung ist nicht in erster Linie um ihrer selbst willen wichtig, nicht um ihrer Erträge und Früchte willen, sondern wegen ihrer Auswirkungen auf die Entwicklung der inneren Natur. Auch hier haben wir einen verwirrenden Quietismus, der das Erlöschen oder Nirvana allen Denkens und Handelns in ewigem Licht und Frieden anstrebt. Es überrascht nicht, wenn ein Kritiker von unbefreiter westlicher Mentalität diese Kontraste sehr unzufrieden, ja mit einer Reaktion der Antipathie, einer fast wilden Abneigung betrachten sollte.
Aber ganz gleich, wie fern diese Dinge seinem Verstand auch liegen mögen, sie enthalten doch etwas, das hoch und edel ist. Er kann sie als falsch, anti rational und bedrückend diskreditieren, nicht aber als übel und unedel denunzieren. Er vermag dies nur mit Hilfe solcher Fehldarstellungen, wie wie sie in Abschnitten von Archers Kritik fanden, die eher von Verantwortungslosigkeit gekennzeichnet sind. Diese Dinge mögen Anzeichen eines antiken oder antiquierten Denkens sein, aber sie sind gewiß nicht die Früchte einer barbarischen Kultur. Und wenn er die Formen der Religion betrachtet, die sie erleuchten und beleben, gewinnt er nicht den Eindruck, sich in der Nähe von reiner Barbarei, einem wilden, unwissenden Durcheinander zu befinden. Denn hier gibt es eine Fülle von dem, dessen er die Religion seiner eigenen Kultur so lange und stetig entkleidet hat, um dann, ganz und gar zufrieden damit, jene Leere Reformation Aufklärung oder rationale Wahrheit der Dinge zu nennen. Er sieht einen gigantischen Polytheismu, eine Überfülle dessen, was seiner Klugheit als reiner Aber glaube erscheint, als grenzenlose Bereitschaft, Dinge zu glauben, die für ihn bedeutungslos oder unglaubwürdig sind. Man schreibt dem Hindu volkstümlich dreihundert Millionen und mehr Götter zu, ebenso viele Bewohner für all die vielen Himmel, wie es Menschen allein auf dieser irdischen Halbinsel Indien gibt, und er hat keinen Einwand dagegen, dieser großen Menge, falls notwendig, noch weitere hinzuzufügen. Hier haben wir Tempel, Götterbilder, ein Priestertum, eine Masse unergründlicher Riten und Zeremonien, die tägliche Wiederholung von Sanskrit Mantren und Gebeten, von denen einige eine prähistorische Schöpfung sind, einen  Glauben an alle Arten von übernatürlichen Wesen und Kräften, Heilige, Gurus. Besonderen Festtage, Gelübde Gaben, Opfer, ein ständiges Beziehen des Lebens auf Kräfte und Einflüsse, die sich physisch nicht nachweisen lassen, anstelle von rationaler wissenschaftlicher Abhängigkeit von den materiellen Gesetzen, die allein das Leben sterblicher Geschöpfe regieren. Für den westlichen Betrachter ist es ein unergründliches Chaos, Animismus, eine abstoßende Folklore. Die Bedeutung, die das indische Denken diesen Dingen gibt, ihr spiritueller Sinn, entgeht ihm vollständig oder über-zeugt ihm nicht oder erscheint ihm als leerer und sinnloser Symbolismus, subtil, nutzlos, nichtig. Und der Kult und Glaube dieses Volkes ist seiner Art nach nicht nur antiquiert und mittelalterlich, sondern er bekommt auch nicht seinen rechten Platz. Anstatt Religion in eine unscheinbare und wirkungslose Ecke zu verweisen, erhebt das indische Mental den Anspruch, den unsinnigen Anspruch, dem der rationale Mensch für immer entwachsen ist, mit ihr das ganze Leben zu füllen.
Es ist schwierig, die zu pragmatische durchschnittliche europäische Intelligenz, die der religiösen Mentalität entwachsen ist oder sich erst zu ihr zurückkämpft nach einem noch nicht liquidierten Bankrott des rationalistischen Materialismus, davon zu überzeugen, daß diese indischen religiösen Formen eine tiefe Wahrheit oder Bedeutung haben. Es wurde trefflich gesagt, daß sie Rhythmen des Geistes seien; aber wem der Geist abgeht, dem nuß notwendigerweise auch die Verknüpfung zwischen Geist und Rhythmus entgehen. Die Götter dieser religiösen Anbetung sind, wie jeder Inder weiß, mächtige Namen, göttliche Formen, dynamische Persönlichkeiten lebendige Aspekte des einen Unendlichen. Jede Gottheit ist eine Form oder Ableitung oder abhängige Kraft der höchsten Trinität, jede Göttin eine Form der universalen Energie, Bewussten Kraft oder Shakti. Aber dem logischen europäischen Verstand sind Monotheismus, Polytheismus, Pantheismus unversöhnliche, miteinander streitende Dogmen; Einheit, Vielheit, Allzeit sind nicht und können nicht verschiedene, wohl aber gleichlaufende Aspekte des wiegen Unendlichen sein. Ein Glaube an ein Göttliches Wesen, das über dem Kosmos steht, der gesamte Kosmos ist und in vielen Formen von Gottheit lebt, ist ein Mischmasch, eine Mixtur, eine Verwirrung der Gedanken und Vorstellungen; denn Synthese, intuitive Schau, innere Erfahrung sind nicht der starke Punkt dieses sehr äußerlichen, analytisches und logischen Verstandes. Das Götterbild ist dem Hindu ein physisches Symbol und eine Stütze des Übernatürlichen; es ist eine Basis für die Begegnung zwischen dem verkörperten Mental und Sinn des Menschen und der übernatürlichen Macht, Kraft oder Gegenwart, die er anbetet und mit der er zu kommunizieren wünscht. Der durchschnittliche Europäer hingegen glaubt wenig an körperlose Wesenheiten, und wenn sie überhaupt existieren, so würde er sie als eigene Kategorie absondern, als eine weitere abgetrennte Welt, eine separate Existenz. Ein Zusammenhang zwischen dem Physischen und dem Supraphysischen ist in seiner Schau eine bedeutungslose Feinheit, die nur in phantasievoller Poesie und Romanze zulässig ist.
Die Riten, Zeremonien, das System von Kult und Anbetung des Hinduismus können nur verstanden werden, wenn wir an seinen fundamentalen Charakter denken. Er ist an erster Stelle eine nicht dogmatische alles einbeziehende Religion und hätte selbst den Islam und das Christentum einbezogen, wenn sie den Vorgang zugelassen hätten. Alles, was er auf seinem Weg traf, hat er in sich aufgenommen, zufrieden damit, wenn er dessen Formen in einen gültigen Bezug zur Wahrheit der supraphysischen Welten und zur Wahrheit des Unendlichen setzen konnte. Weiter hat er immer in seinem Herzen gewußt, daß Religion, wenn sie eine Wirklichkeit für die Masse der Menschen und nicht nur für einige wenige Heilige und Denker sein soll, die Gesamtheit unseres Wesens ansprechen muß, nicht nur die übernationalen und die rationalen Teile, sondern alle anderen ebenfalls. Die Vorstellung, die Emotionen, der ästhetische Sinne, selbst die Instinkte der halbbewußten Teile müssen religiös beeinflusst werden. Die Religion muß den Menschen zur überrationalen, spirituellen Wahrheit hinführen, und sie muß auf ihrem Weg die erleuchtete Vernunft in Anspruch nehmen, aber sie darf es nicht unterlassen, den Rest unserer vielschichtigen Natur zu Gott hin zu rufen. Und sie muß auch jeden Menschen dort nehmen, wo er steht, und ihn durch das spiritualisieren, was er fühlen kann, und ihm nicht sogleich etwas aufzwingen, was er noch nicht als wahre und lebendige Kraft erfassen kann. Dies ist der Sinn und das ziel all jener Teile des Hinduismus, die im besonderen von der positivistischen Intelligenz als irrational oder anti rational gebrandmarkt werden. Aber das europäische Mental vermochte diese einfache Notwendigkeit nicht zu verstehen oder hat sie verachtet. Es will die Religion reinigen durch die Vernunft und nicht durch den Geist, sie reformieren, durch die Vernunft und nicht durch den Geist. Und wir haben gesehen, welches die Resultate dieser Art Reinigung und Reformation in Europa waren. Das unweigerliche Resultat jener unwissenden Manipulation war, daß zunächst die Religion verarmte und dann langsam getötet wurde; der Patient erlag der Behandlung, wohingegen er die Krankheit gut überlebt haben könnte.
Die Anklage mangelnden ethischen Inhalts ist absurd, sie ist das direkte Gegenteil der Wahrheit; aber wir müssen ihre Erklärung in einer Art typischem Mißverständnis suchen; denn sie ist nicht neu. Das Hindu-Denken und die Hindu-Literatur könnte man stets einer tyrannisch dominierenden ethischen Besessenheit beschuldigen; überall kehrt der ethische Grundton wieder. Der Gedanke des Dharma ist nächst dem Gedanken des Unendlichen sein Hauptakkord; Dharma ist nächst dem Geist seine Lebensgrundlage. Es gibt keinen ethischen Gedanken, den es nicht herausgehoben, in seine idealste und zwingendste Form gebracht hätte, verstärkt noch durch Lehre, Anweisung, Parabel, künstlerische Schöpfung, formende Beispiele. Wahrheit, Ehrbarkeit, Loyalität, Treue, Mut, Keuschheit, Liebe, Duldsamkeit, Selbstaufopferung, Arglosigkeit, Vergebung, Mitgefühl, Wohlwollen, Mildtätigkeit sind gewöhnlich seine Themen, sind nach seiner Schau die eigentliche Substanz eines rechten menschlichen Dharma. Der Buddhismus mit seiner hohen und edlen Moral. Der Jainismus mit seinem hehren Ideal der Selbstbezwingung, der Hinduismus mit seinen wunderbaren Beispielen aller Aspekte des Dharma sind in ethischer Lehre und Praxis keiner anderen Religion oder keinem anderen System unterlegen, nehmen vielmehr den höchsten Rang ein und hatten die größte Wirkkraft. Für die Übung dieser Tugenden in alten Zeiten gibt es reiche Belege aus eigenen und fremden Quellen. Trotz vielfältiger Degeneration bleibt noch ein beträchtlicher Einfluß davon zurück, obgleich ein Niedergang der mehr maskulinen Qualitäten verzeichnet wurde, die sich nur auf dem Boden der Freiheit voll entfalten. Die Legende, daß alles sich anders verhielte, ging aus vom Denken englischer Gelehrter mit christlichem Vorurteil, die sich irreleiten ließen von dem Nachdruck, den indische Philosophie eher auf Erkenntnis als auf Werke als Mittel zur Befreiung legt. Denn sie bemerkten nicht oder begriffen nicht die Bedeutung der Regel, die allen indischen spirituellen Suchern wohlbekannt ist, daß ein reiner sattwischer Geist und ein rein sattwisches Leben als erster Schritt zur göttlichen Erkenntnis vorausgesetzt werden – wer Übles tut, findet mich nicht, sagt die Gita. Und sie vermochten nicht zu verstehen, daß Erkenntnis der Wahrheit für indisches Denken nicht intellektuelle Zustimmung oder Erkennung bedeutet, sondern ein neues Bewußtsein und ein Leben entsprechend der Wahrheit des Geistes. Sittlichkeit ist für das westliche Mental zumeist eine Frage äußeren Verhaltens; für das indische Mental ist Verhalten nur ein Mittel zum Ausdruck und Zeichen einer Seelenverfassung. Der Hinduismus stellt nur beiläufig eine Anzahl von Geboten zur Befolgung zusammen, ein Verzeichnis der Moralgesetze. Mehr noch schreibt er eine spirituelle oder ethische Reinheit des Geistes vor, wobei Handlung ein äußerer Index ist. Er sagt emphatisch genug, fast zu emphatisch: Du sollst nicht töten! aber legt noch mehr Nachdruck auf die Anweisung: Du sollst nicht hassen, du sollst nicht der Begierde, dem Ärger oder der Bosheit nachgeben! denn sie sind die Wurzeln des Tötens. Und der Hinduismus läßt relative Normen zu, eine Weisheit, die für die europäische Intelligenz hoch ist. Nicht Verletzen ist sein höchstes Gesetz, ahimsa paramo dharmah; dennoch stellt er es nicht als physische Regel für den Krieger auf, sondern fordert von ihm nachdrücklich Erbarmen, Ritterlichkeit, Respekt für die Nichtkämpfenden, die Schwachen, Unbewaffneten, Besiegten, den Gefangenen, den Verwundeten, den Flüchtling und vermeidet so den unpraktischen Charakter einer zu absolutistischen Regel für das gesamte Leben. Ein Mißverstehen dieser Gefühlstiefe und klugen Relativität ist vielleicht für viele Fehldarstellungen verantwortlich. Der westliche Ethiker liebt eine hohe Norm als Empfehlung der Vollkommenheit und ist nicht allzu sehr betroffen, wenn sie mehr durch Bruch als durch Beachtung geehrt wird. Die indische Ethik stellt eine ebenso hohe und oft höhere Norm auf; da es ihr aber weniger um hohes Bekenntnis, vielmehr um die Wahrheit des Lebens geht, läßt sie Entwicklungsstadien zu und gibt sich in den niederen Stadien damit zufrieden, wenn sie all jene Menschen soweit wie möglich sittlich heben kann, die für die höchsten ethischen Konzepte und die höchste sittliche Praxis noch nicht bereit sind.
All diese Kritiken am Hinduismus sind daher entweder tatsächlich falsch oder schon ihrer Natur nach ungültig. Es bleibt zu betrachten, ob die andere, noch weiter verbreitete Beschuldigung voll oder teilweise gerechtfertigt ist, - jene unheilvolle Anklage, daß indische Kultur die Vitalkraft drossele, den Willen lähme, dem menschlichen Leben keine große oder dynamische Kraft, keinen hohen Anreiz, kein stärkendes und erhebendes Motiv biete.
Es stellt sich uns die Frage, ob die indische Kultur hinreichend Kraft zur Stärkung und Veredelung unseres normalen menschlichen Daseins besitzt. Hat sie, abgesehen von ihren transzendenten Zielen, einen pragmatischen, nicht-asketischen, dynamischen Wert, eine Kraft zur Ausweitung und rechten Regulierung des Lebens? Dies ist eine Frage von zentraler Bedeutung. Denn wenn sie uns nichts dieser Art zu bieten hat, so kann sie nicht leben, ganz gleich, worin ansonsten ihre Größe bestehen mag. Sie wird zu einem anomalen Cis-Himalayanischen Treibhausglanz, der in seiner Halbinsel Abgeschiedenheit bestehen konnte, in der emsigen und eifrigen Atmosphäre des modernen Lebenskampfes jedoch zugrunde gehen muß. Keine anti vitale Kulter kann überleben. Eine zu intellektuelle oder zu ätherische Zivilisation, der es an starkem vitalen Antrieb und Motiv fehlt, muß mangels Vitalität und Lebenskraft ermatten. Wenn eine Kultur dem Menschen dauerhaft und vollständig dienstbar sein soll, so muß sie ihm mehr bieten als eine Art ungewöhnlichen transzendentalen Aufstiegs zur Überwindung der irdischen Lebenswerte. Sie muß sogar mehr tun, als bloß die lange Stabilität und das geordnete Wohlergehen einer alten, reifen und menschlichen Gesellschaft mit großer Wißbegierde der Erkenntnis, Wissenschaft und philosophischen Forschung oder reichem Licht und Glanz von Kunst, Dichtung und Architektur zu dekorieren. All dies tat die indische Kultur in der Vergangenheit zu einem noblen Zweck. Aber sie muß auch den Anforderungen einer progressiven Lebenskraft gerecht werden. Es muß eine Inspiration für das irdische Streben des Menschen geben, ein Ziel, einen Antrieb, eine Kraft zur Entwicklung und einen Willen zum Leben. Ganz gleich, ob unser Ende Stille und Nirvana bedeutet oder nicht, ein spirituelles Erlöschen oder einem materiellen Tod, es steht fest daß die Welt die mächtige Anstrengung eines gewaltigen Lebensgeistes und der Mensch die gegenwärtige fragwürdige Krone auf Erden und der ringende,
jedoch noch erfolglose gegenwärtige Held und Protagonist in dessen Streben oder dessen Drama ist. Eine große menschliche Kultur muß diese Wahrheit einigermaßen vollständig sehen.

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